Jenische: Mit dem Rotstift
Eigentlich wollte sich Bundesrätin Baume-Schneider für die Verfolgung der Jenischen entschuldigen. Doch dann machten sich verschiedene Ämter ans Werk.

Am Ende hätte es eine Entschuldigung geben sollen. Sie stand bereits auf offiziellem Papier. Innenministerin Elisabeth Baume-Schneider (SP) wäre vor die Medien getreten – und vor allem vor die Vertreter:innen der von der Pro Juventute und von den Behörden bis in die 1970er Jahre verfolgten Jenischen. Und hätte um Verzeihung gebeten: für das Verbrechen gegen die Menschlichkeit, das an ihnen begangen wurde, wie es der Bundesrat Ende Februar anerkannte.
Doch bekannterweise ist nichts dergleichen passiert. Stattdessen verwies eine sichtlich aufgewühlte Baume-Schneider vor drei Wochen bloss auf eine 2013 von Simonetta Sommaruga ausgesprochene symbolische Entschuldigung. Diese richtete sich damals an ehemalige Verdingkinder und an sämtliche Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen – und bedauerte wörtlich nur das «Wegschauen» der Behörden.
Wie kam es dazu, dass der Bundesrat auf eine Entschuldigung verzichtete? Das kann die WOZ mit Dokumenten zeigen, die wir aufgrund des Öffentlichkeitsprinzips erhalten haben. Satz für Satz lässt sich damit nachzeichnen, wie sich die Bundesbehörden aus der historischen Verantwortung stahlen – und mit der konkreten Entschuldigung auch den rassistischen Gehalt der Verfolgung der Jenischen wegkürzten.
Wenn EDA und EJPD redigieren
Hintergrund der Auseinandersetzung ist ein Rechtsgutachten, das das Departement des Innern (EDI) im vergangenen Frühling beim Zürcher Völkerrechtsprofessor Oliver Diggelmann in Auftrag gab. Dieser sollte klären, ob die Kindswegnahmen bei den Jenischen die Tatbestände «Völkermord» («Genozid») oder «Verbrechen gegen die Menschlichkeit» erfüllten. Von 1926 bis 1973 hatte das von der Pro Juventute lancierte «Hilfswerk» Kinder der Landstrasse über 600 jenische Kinder ihren Familien entrissen – aktiv unterstützt von den Behörden beim Bund, in den Kantonen und den Gemeinden.*
Das Gutachten von Diggelmann kam zum Schluss, dass aus rechtlicher Sicht kein (kultureller) Genozid vorliege, der Tatbestand eines «Verbrechens gegen die Menschlichkeit» jedoch erfüllt sei. Ein historisch einmaliger Befund (siehe WOZ Nr. 9/25).
Wie mit dem Gutachten weiter umzugehen sei, dazu gab es eine vertrauliche Ämterkonsultation. Daran beteiligten sich neben dem Bundesamt für Kultur des EDI auch die Direktion für Völkerrecht und das Generalsekretariat des Aussendepartements (EDA) sowie das Bundesamt für Justiz des Justiz- und Polizeidepartements (EJPD). Wie die Dokumente zeigen, spielten die Vertreter:innen von EDA und EJPD beim Verzicht auf eine Entschuldigung die entscheidende Rolle.
Im internen Schreiben an den Bundesrat zum Umgang mit dem Gutachten und zum weiteren Vorgehen beantragt das EDI zuerst die «Äusserung einer Entschuldigung» an die Betroffenen. Es schreibt: «Schon alleine die Schwere der Tat rechtfertigt eine Entschuldigung.» Dafür spreche auch, dass damalige Mitglieder des Bundesrats aktiv und direkt an den Taten beteiligt gewesen seien. Tatsächlich unterstützte der Bund die Pro Juventute nicht nur mit Geld, die Stiftung wurde bis in die neunziger Jahre jeweils von einem Bundesrat präsidiert. Das Diggelmann-Gutachten verweist denn auch explizit auf die wichtige Rolle des Staats bei der Verfolgung.
Doch sowohl das EJPD wie auch das EDA verwerfen den Antrag des EDI. Das Bundesamt für Justiz streicht gar beide Argumente, also die Schwere der Tat und die Mittäterschaft der Behörden, aus dem Dokument. Letzteres begründet es mit föderalistischem Kleinklein: Gegen eine neue Entschuldigung spreche, «dass sich die Kantone und Gemeinden, welche stärker als der Bund in die konkreten Verfolgungshandlungen involviert waren […], bisher nicht zu diesem Vorgehen äussern konnten». Eine (neue) Entschuldigung, die sich auch auf Handlungen der Kantone und Gemeinden beziehe, erscheine deshalb problematisch.
Das EDA wiederum spricht sich pauschal gegen eine Entschuldigung aus: «Entschuldigen kann man sich nach allgemeinem Sprach- und moralischem Verständnis für etwas, was man persönlich gemacht hat oder für das man aus anderen Gründen in der Verantwortung steht. Beides ist vorliegend nicht zutreffend», schreibt die Verantwortliche in einem Mail.
Den Rassismus rausgekürzt
Auffallend ist, dass die beiden Departemente auf einer Gleichbehandlung mit den Opfern der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen beharren. Das EDA streicht gleich einen ganzen Absatz, der daran erinnert, dass die Jenischen – anders als andere Opfer der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen – aus ethnischen und kulturellen Gründen systematisch verfolgt wurden. Und es kommentiert: «Eine separate, neue Entschuldigung könnte von anderen Personen und Gruppen, welche ebenfalls Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen wurden, als Ungleichbehandlung wahrgenommen werden.»
Auch das Bundesamt für Justiz befürchtet, dass die anderen Opfer eine Entschuldigung an Jenische und Sinti als Ungleichbehandlung beziehungsweise als «Abwertung ihres Leides» auffassen könnten. Die beiden Departemente setzen sich schliesslich mit ihrem Antrag auf eine «Bekräftigung der bisher erfolgten Entschuldigungen» durch. Was gerecht tönen mag, hatte allerdings den gegenteiligen Effekt: Indem der Bundesrat auf eine spezifische Entschuldigung verzichtete, negierte er auch die rassistische Komponente, die der Verfolgung der Jenischen spezifisch zugrunde lag.
Die heute 72-jährige Uschi Waser kämpft seit 35 Jahren für die Rehabilitation der Betroffenen. Sie betont, dass die Geschichte der Jenischen nicht einfach in die Geschichte der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen verpackt werden könne, «denn bei uns geht es immer auch um die Auslöschung eines Volkes». Obwohl das im Februar publizierte Gutachten mit dem Verdikt eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit genau diese Einzigartigkeit dieses Verbrechens bestätigte, sei der Bund noch nicht zu einer passenden Reaktion darauf bereit.
Auch Gutachter Oliver Diggelmann kritisierte den Bundesrat für die «schmallippige» Entschuldigung: Im «Tagesgespräch» auf SRF sagte er Ende Februar, beim Verweis auf die Entschuldigung bei allen Opfern von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen handle es sich um ein «Recyceln». Das Spezifische der Verfolgung der Jenischen sei 2013 nicht angesprochen worden.
Sieben Couverts für den Bundesrat
Nicht überraschend griffen das EDA und das EJPD auch in den Brief ein, der im Namen von Bundespräsidentin Karin Keller-Sutter an die «Gemeinschaft der Jenischen und Sinti in der Schweiz» verschickt wurde. Auch hier wurde die Entschuldigung gestrichen. Und hiess es in der Version des Innendepartements noch: «Der Staat trägt eine Mitverantwortung für die begangenen Taten», so wurde der Satz vom EDA in die Vergangenheit gesetzt. Es sei wichtig, durch den Gebrauch der Vergangenheitsform klar zum Ausdruck zu bringen, «dass es heute keine Mitverantwortung des Staates gibt». Eine vielsagende Korrektur, mit der sich der Bundesrat von seiner Verantwortung für die Verfolgung der Jenischen und Sinti zu distanzieren versucht.
Damit sich die Vergangenheit nicht so einfach von der Gegenwart abkoppeln lässt, überreichte Uschi Waser beim Treffen mit Betroffenen Elisabeth Baume-Schneider sieben Briefumschläge – für jede:n Bundesrät:in einen. Darin enthalten waren Kopien ihrer Akten. «Es muss unter allen Umständen verhütet werden, dass […] ein neuer Ableger der Vaganität entsteht», ist auf einer Kopie zu lesen. Eine andere zeigt einen «Transport-Befehl» für ein siebenmonatiges Kind (vgl. Bild).
Die Botschaft von Uschi Waser: Die Taten mögen vergangen sein, die Opfer sind noch da. Immerhin antwortete Baume-Schneider umgehend in einem persönlichen Brief.
* Ergänzung vom Dienstag, 1. April 2025: Da auch andere Hilfswerke und die Behörden tätig waren, wird heute von gegen 2000 fremdplatzierten jenischen Kindern ausgegangen.