Türkei: Volksfeststimmung auf dem Taksimplatz
Die Revolte in der Türkei wird die konservative Regierung nicht aus dem Amt fegen. Aber das System Erdogan ist nicht länger unbestritten. Die Demonstrationen haben das Land bereits verändert.
Ein paar Hundert AktivistInnen, die über einen Park am zentralen Platz in Istanbul wachen, der einem Einkaufszentrum weichen soll – das hätte keine grosse Herausforderung für den türkischen Staat darstellen sollen. Noch am 1. Mai 2013 hatte die Polizei mit massiver Härte verhindert, dass Gewerkschaften und linke Organisationen dort, auf dem Taksimplatz, demonstrierten. Am 30. Mai wurden denn auch die paar Hundert AktivistInnen frühmorgens mit Tränengas eingedeckt und niedergeknüppelt. Im Erfolgstaumel verbrannten Polizei und Sicherheitskräfte der Stadtverwaltung die Zelte der zumeist jugendlichen AktivistInnen.
Doch dann kam es ganz anders. Die Fakten des brutalen Polizeieinsatzes verbreiteten sich über soziale Netzwerke wie Twitter und führten zum grössten Massenprotest in der Geschichte der Türkei seit dem Militärputsch von 1980. Eine Revolte von rund 100 000 Jugendlichen, die Staatsmacht als Feindesarmee, die BürgerInnen terrorisiert und ganze Wohnbezirke in eine Gaswolke einhüllt. Bilanz: zwei Tote, Hunderte teils schwer Verletzte. Ministerpräsident Tayyip Erdogan beschimpfte die DemonstrantInnen als «Marodeure» und «Mitglieder illegaler Organisationen».
Immerhin ergriffen die Regierenden schon bald die Chance zurückzurudern. Der türkische Staatspräsident sprach davon, dass die «Botschaft» der Demonstrierenden angekommen sei. Der stellvertretende Ministerpräsident entschuldigte sich für die Härte des Polizeieinsatzes. Der Innenminister kündigte Ermittlungen an. Die Polizei ist abgezogen: Seit Tagen herrscht Volksfeststimmung auf dem überfüllten Taksimplatz.
Es ist die schwerste politische Niederlage der regierenden konservativ-islamischen Partei AKP, die seit über einem Jahrzehnt die Regierung stellt. Noch bei den Wahlen 2011 erhielt sie fast fünfzig Prozent der Stimmen. Die AKP trat als Reformpartei gegen das kemalistische Establishment an und galt als Garant für Stabilität, die den TürkInnen Reichtum und Teilhabe am Wirtschaftsaufschwung beschert. Die AKP sieht sich gern in der Rolle der einst Unterdrückten, die auf demokratischem Weg die politische Macht eroberten und den Massen Partizipation am öffentlichen Leben ermöglichten. Ministerpräsident Erdogan gefiel sich als muslimisch-demokratischer Führer im Mittleren Osten. Die Türkei als Modell für den Arabischen Frühling, eine demokratische Regionalmacht, die Beitrittskandidatin der EU ist, mit den USA dealt und trotzdem Israel die Stirn bietet.
Innenpolitisch regierte Erdogan das Land einem allmächtigen Patriarchen gleich, der Anweisungen erteilt, wie die Untergebenen sich zu benehmen haben: Macht drei Kinder! Esst kein Weissbrot! Abtreibung ist Sünde! Alkohol ist des Teufels! Unverblümt drohte er öffentlich einem Medienunternehmer mit ernsthaften Konsequenzen, sollte dieser nicht einen missliebigen Kolumnisten kaltstellen. Kein Wunder, dass bei der vorherrschenden Angst und Selbstzensur die türkischen Medien tagelang nicht über die Proteste am Taksimplatz berichteten.
Die Revolte wird Erdogan nicht aus dem Amt fegen. Und doch hat sich die Türkei grundlegend verändert. Man schaue sich die Medien an: Da musste sich der Geschäftsführer des Nachrichtensenders NTV bei den ZuschauerInnen für die mangelnde Berichterstattung entschuldigen. Es gab sogar eine Liveschaltung vor das NTV-Gebäude, wo DemonstrantInnen mit Geld wedelten – eine Anspielung auf die Verbandelung des Senders mit der Regierung. Der Chef einer Grossbank, die dem gleichen Medienkonzern gehört, erklärte öffentlich, auch er sei ein «Marodeur». Der Sender CNN Türk, der während der Revolte einen Dokumentarfilm über Pinguine zeigte, muss mittlerweile Studiogäste interviewen, die Pinguin-T-Shirts tragen.
Und man schaue sich den Taksimplatz an: Den Platz, wo früher selbst ein paar Dutzend friedfertige DemonstrantInnen niedergeknüppelt und auseinandergetrieben wurden, haben nun Zehntausende zur polizeifreien Zone erklärt. Die überwältigende Mehrheit sind Schüler, Lehrlinge und Studentinnen. Es gibt nur wenige organisierte Gruppen und Transparente von Organisationen. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet die Kinder der Unterdrückten, die einst die Basis der AKP stellten, dort versammelt sind. Und sie revoltieren nicht gegen ihre Eltern; diese stehen hinter ihnen. Die Jugendlichen wissen nichts darüber, wie die Militärs einst die Gefolgsleute Erdogans verfolgten. Sie wissen aber sehr wohl, dass die AKP nun die Justiz und die Polizei befehligt. Sie wissen, dass sich die AKP-Elite hemmungslos bereichert.
Diejenigen, die das Rückgrat der konservativen Türkei stellen sollten, jubeln heute dem Schwulen-und-Lesben-Block zu und informieren sich an Ständen über Gentrifizierung. Sie machen mit bei der Aktion, auf dem Platz keine sexistischen und homophoben Parolen zu dulden. Die umliegenden EinzelhändlerInnen, Cafés und Restaurants unterstützen die DemonstrantInnen grosszügig – Mundschutz, Essig und Talcid gegen die Folgen des Tränengases gibt es überall, vielfach umsonst. Und mittlerweile wird alles live im Fernsehen übertragen.
Innerhalb der AKP herrscht Verwirrung. Es dämmert ihnen: So wie Wladimir Putin in Russland kann man in der Türkei nicht mehr regieren.