Epochenwandel: Noch herrscht Ruhe in Europa

Nr. 29 –

Weiterhin Strassenschlachten, Massenverhaftungen und Aufbegehren in der Türkei (vgl. Seite 9), Beschwichtigungsversuche und am Freitag ein landesweiter Streik für kürzere Arbeitszeiten in Brasilien: Es ist kein Zufall, dass in diesen Staaten Zigtausende auf die Strassen gehen oder die Arbeit niederlegen. Denn beide Gesellschaften haben sich gewandelt, zum Positiven hin. Brasilien ist eines der wenigen Länder, in denen die soziale Kluft abnimmt, die Türkei hat in den vergangenen Jahren grosse Schritte hin zu einer Modernisierung getan – und in beiden Staaten protestieren Menschen, die entweder von den Veränderungen ausgeschlossen blieben oder denen der Fortschritt etwa Richtung Demokratie bisher nicht weit genug ging.

Ganz anders die Lage in den meisten europäischen Staaten. Hier entwickeln sich die Gesellschaften nicht nach vorn, sondern zurück – in materieller, sozialer, politischer Hinsicht. Die Unterschiede zwischen Arm und Reich, zwischen unten und oben haben dramatisch zugenommen. In vielen Ländern wächst eine Generation heran, die keine Zukunft hat. Nach der kurzen Schrecksekunde 2008 findet das Finanzkapital zur alten Arroganz zurück und treibt gewählte Regierungen vor sich her. Die parlamentarische Demokratie verliert an Substanz (vgl. Seite 23), der gesellschaftliche Zusammenhalt bröckelt – und mit ihm schwindet die jahrzehntelang begründete Hoffnung der Älteren, dass es den Jungen einmal besser gehen wird.

Alle sehen sich von Krisen umzingelt. Der Finanzmarktkrise, die inzwischen Staatsschuldenkrise heisst. Der Wirtschafts- und Arbeitsmarktkrise, aus der auch ein konjunktureller Aufschwung nicht herausführt. Der sozialen Krise, weil den Lohnabhängigen immer mehr Lasten aufgebürdet werden. Der Legitimationskrise des politischen Systems, das rapide an Glaubwürdigkeit verliert. Und der Klimakrise, die – ernst zu nehmenden Prognosen zufolge – in den nächsten Jahren den Point of no Return erreicht, ab dem sich die Katastrophe nicht mehr vermeiden lässt.

Es wird also ernst. Die Krisen bündeln sich, der derzeitige Kapitalismus stösst an viele Grenzen, nicht nur an die einer sinkenden Profitrate. Doch wer kann den Epochenwandel gestalten? Die herkömmlichen politischen Parteien, die ihre Ohnmacht als Anpassung an eine «marktkonforme Demokratie» (Angela Merkel) kaschieren und denen die WählerInnen scharenweise davonlaufen? Die Gewerkschaften, die – europaweit gesehen – nur noch Verteidigungskämpfe führen und selbst diese selten gewinnen? Oder die traditionelle Linke, die zwar fleissig analysiert, aber meist nur partiell Alternativen anbietet (wie eine höhere Besteuerung der Reichen)?

Und wie sieht es bei den Menschen aus, die oft vereinzelt, verunsichert und orientierungslos entweder ums Überleben kämpfen, ihre Empörung teilweise populistisch vereinnahmen lassen oder konsumieren, solange das noch möglich ist? Sicher ist: So wie bisher geht es nicht weiter. Trotzdem hält sich – von Spanien, Griechenland, teilweise auch Portugal mal abgesehen – ihr Zorn in Grenzen. Natürlich beschäftigt sie die zunehmende soziale Ungerechtigkeit: Im deutschen Wahlkampf ist diese Frage das Thema Nummer eins. Vielleicht können wir ja das Neue noch nicht erkennen, das bei tiefgreifenden Umbrüchen oft entsteht – jene «unterirdischen Gewalten», die – wie Karl Marx und Friedrich Engels vor 165 Jahren im «Kommunistischen Manifest» schrieben – «nicht mehr zu beherrschen» sind, weil «alles Stehende verdampft».

Marx und Engels schrieben das lange bevor sich die Arbeiterklasse in Gewerkschaften und sozialistischen Parteien formierte. Die neue Kraft wird, so sie denn kommt, vielschichtiger sein, vielleicht diffuser, sicherlich individueller. Da gibt es viele Fragen – nach dem Zustand der Gesellschaft und nach den Kräften, die die Zukunft von unten her gestalten können. Mit diesen Fragen beschäftigt sich die neue WOZ-Gesprächsserie «Weiter denken, anders handeln».