Präsidentschaftswahl in Mali: Der neue Drang nach Beteiligung
Erst ein Putsch im vergangenen Jahr und nun ein miserables Ergebnis bei der Präsidentschaftswahl: An den Urnen wurden die VertreterInnen des alten Systems Malis abgestraft. Aber ist der nächste Präsident willens, eine Wende einzuleiten?
Lässt sich unter unwürdigen Umständen Würde erringen? Von dieser Frage handelt die Präsidentschaftswahl in Mali. Sie war überhastet angeordnet und dem Land von seinen GeldgeberInnen aufgezwungen worden – und doch beteiligten sich daran mehr Menschen als je zuvor bei einer malischen Wahl. In der ersten Runde 51 Prozent; die Stichwahl findet am Sonntag statt.
Frankreich gratulierte zuerst – und zwar sich selbst. Als sei die Wahlbeteiligung der letzte ausstehende Beweis für die Richtigkeit der französischen Militärintervention im Januar. Zu meinen, die MalierInnen hätten sich nur brav in eine vorgefertigte Erwartungskulisse hineingestellt, greift dennoch zu kurz. Sie haben sich diese Wahl angeeignet, allem Widersinn und allen Demütigungen zum Trotz.
So standen sie erst stundenlang Schlange, um eine – pompös als biometrisch bezeichnete – Wahlkarte zu bekommen, obwohl es dafür in ganz Mali kein Lesegerät gibt. Rannten dann am Wahlsonntag von einem Ende der Stadt zum andern, um nach dem richtigen Wahlbüro zu fahnden, oder fuhren dafür Hunderte Kilometer über Land. Suchten auf zwei Meter hohen Papierbahnen ohne alphabetische Ordnung nach dem eigenen Namen. Und wer das alles bewältigt hatte, ohne dabei einen Tropfen Wasser zu trinken, denn es war Ramadan, konnte zuletzt noch an der Gestaltung des Wahlzettels scheitern – elf Prozent der Stimmen waren ungültig, eine sagenhafte Zahl.
Hunderttausende in den Flüchtlingslagern, in der Diaspora, wollten zudem wählen und durften nicht. In Paris randalierten MigrantInnen vor Wut, weil sie keine Wahlkarten bekommen hatten. Ihnen war ein Recht vorenthalten worden, so sahen sie es nun – ein Recht, das zuvor kaum Wert hatte. An dieser Stelle rückt die tragische Seite des neuen Drangs nach Beteiligung in den Blick. Denn Malis politisches System hat sich – nach Putsch, Krise, Besatzung, Krieg – in Wahrheit kein bisschen geändert. Immer noch schwirren die Schwärme belangloser Miniparteien wie Fruchtfliegen um Pfründe und Posten: So stecken hinter den meisten der 26 Männer und der einen Frau, die für das Präsidium kandidierten, Personenklüngel, die auf Rendite hoffen.
Abgestrafte Fassadendemokratie
Bemerkenswert ist deshalb, wer bei dieser Wahl durchfiel: zunächst Adema, die einzige landesweit vertretene Partei, die Mutter der malischen Fassadendemokratie und politische Heimat des derzeitigen Interimspräsidenten Dioncounda Traoré; die Partei blieb unter zehn Prozent. Und Modibo Sidibé, der noch Anfang 2012 ausersehen war, der künftige Staatschef im malischen Kartenhaus zu sein, blieb gar unter fünf Prozent. Dass der Sturz dieses Systems durch einen Putsch junger Offiziere im März 2012 (vgl. «Schlechte Vorzeichen für Versöhnung») populär war, hat sich nun an der Urne bestätigt. Die Wahl gleicht einer Zeitenwende, zumindest im Bewusstsein der Bevölkerung. Doch wer könnte sie in Realität umsetzen?
Als Favorit und mutmasslich nächster Präsident steht ein Mann da, der es am besten verstand, die Hoffnungen und Sehnsüchte der MalierInnen auf sich zu ziehen: Ibrahim Boubacar Keita, 68 Jahre alt, genannt IBK, gemäss der malischen Abkürzungsmarotte. Keita ist in der Politik ein nützlicher Name: So hiessen der mythisch verehrte Begründer des mittelalterlichen Malireichs und auch der erste Präsident nach der Unabhängigkeit von 1960. Tatsächlich scheint der Keita von 2013 die Antwort zu sein auf das Gefühl der nationalen Kränkung, das viele in Mali seit einem Jahr verspüren, zumal im Süden. IBK, ein altes Krokodil der malischen Politik, versprach im Wahlkampf «Ehre und Glück für Mali» oder «Mali über alles», setzte auf sein Image als Politiker der harten Hand, der Staat und Armee wieder stark machen werde.
In der noch jungen Demokratie der neunziger Jahre hatte er als Regierungschef Dauerstreiks von SchülerInnen und Staatsbediensteten mit Prügel und Tränengas erstickt, die Schulen geschlossen, ein ganzes Schuljahr für nichtig erklärt. Im aktuellen Wahlkampf trat er nun auf wie ein autoritärer Vater («ein Mann, der sein Volk kennt, der ihm zuhört, der es liebt») und allmächtiger Schicksalslenker («Ich bringe Frieden und Sicherheit zurück»). Seine Art zu reden wird auch von den weniger Gebildeten verstanden; sie nennen ihn Kankelentigi, «der sein Wort hält».
Glaubwürdig, aber unbekannt
Keita schwört, er habe sich persönlich nie illegal bereichert. Das mag sein; er bezog als Botschafter, Minister, Abgeordneter jahrzehntelang Gehälter, die immer ein Hundertfaches dessen waren, was ein malischer Bauer in seiner Tasche sieht. Der populären Forderung, sein Vermögen offenzulegen, kam er nicht nach. Und als Präsident des Parlaments hat er die korrupte Konsenspolitik des im März 2012 gestürzten Staatschefs Amadou Toumani Touré aktiv mitgetragen. Nun verspricht er einen Bruch mit den alten Methoden. Doch eine Aufarbeitung von Schuld wird es mit ihm nicht geben. Bei ihm haben die angeprangerten Taten keine TäterInnen.
Ihm kommt stattdessen zugute, dass er sich nach dem Putsch diskret zurückhielt und sich nicht der sogenannten Anti-PutschistInnen-Front anschloss, in der sich ein Grossteil der alten politischen Klasse versammelte; sie hiess im Volksmund auch die «Front der Schande». Viele MalierInnen glauben, IBK werde nun verwirklichen, was die PutschistInnen damals versprachen, nämlich «null Toleranz gegen Korruption» und eine starke Armee.
Es gab auch einige wenige Gestalten, die den Bruch mit der Vergangenheit glaubwürdig verkörperten, weil sie in deren Methoden nicht verstrickt waren. Doch waren diese KandidatInnen nicht bekannt, nicht populär genug. Und sie verfügten nicht über die Geldmittel, dies in kurzer Zeit zu ändern.
Unter denen, die reich, gerissen und volkstümlich genug sind, um Sportstadien füllen zu können, sei IBK das kleinere Übel – sagen Stimmen der Zivilgesellschaft. Der Mann habe zumindest einen eigenen Kopf, sei keine Marionette. Doch müsse man ihm genau auf die Finger schauen und gegen seinen autoritären Stil eine Gegenmacht von unten aufbauen.
Noch ein ganz anderes Phänomen kennzeichnet das Mali dieser Tage: Alle einflussreichen muslimischen Führer riefen auf, zur Wahl zu gehen. Das gilt für Mahmoud Dicko, Vorsitzender des Hohen Islamischen Rats und dem Wahhabismus nahe; es gilt ebenso für dessen Gegenspieler, den Prediger Ousmane Madani Haidara, einen modernen Sufi mit Millionen AnhängerInnen. Haidara war nach dem Putsch auf dem politischen Parkett immer wieder als Vermittler aufgetreten; jetzt lehnte er es ab, seinen gewaltigen Anhang auf einen bestimmten Kandidaten einzuschwören. «Ein religiöser Führer», sagte er, «muss neutral bleiben!»
Anders die neue muslimische Lobbyvereinigung Sabati; sie mobilisierte ganz offen für IBK. Der Sabati-Präsident Moussa Boubacar Bah ist eine angesehene Gestalt der jüngeren Predigergeneration, die er auch offiziell im Islamrat vertritt. Vor der Presse betonte er die nichtreligiösen Ziele von Sabati: eine hohe Wahlbeteiligung, eine saubere Regierungsführung. Zu den zahlreichen Forderungen eines Sabati-Memorandums gehört aber auch: Der Staat soll religiöse Vereinigungen finanziell so fördern wie politische Parteien, Alkoholwerbung verbieten und die Zuständigkeit für arabischsprachige religiöse Schulen übernehmen. Der Bankier dieser Lobbygruppe ist ein schwerreicher traditioneller Sufiführer, der sogenannte Chérif de Nioro; er hatte 2012 den Putsch begrüsst und sich deswegen den Hass der alten politischen Klasse zugezogen.
Das klingt verwirrend? Gewiss. Denn die muslimischen Protagonisten (es sind ausschliesslich Männer) sortieren sich in diesem Wahlkampf nicht so simpel, wie man es im Westen gern annimmt: hier religiös radikal, dort religiös moderat. Sie unterscheiden sich vielmehr nach Nähe oder Ferne zur Macht. Die einen wollen sich direkt in die politischen Dinge einmischen, die anderen nur indirekt. So wurden in mehreren Moscheen Imame ausgebuht, als sie auf die Wahlempfehlung zu sprechen kamen; sie sollten gefälligst beim religiösen Thema ihrer Predigt bleiben. Es kam sogar zu Handgreiflichkeiten. Für friedliche und transparente Wahlen zu beten, war vielen Gläubigen genug.
Gleichwohl liegt eine gewisse Pikanterie darin, dass eine vom Westen aufgedrängte Wahl nun ihren Erfolg nicht zuletzt der mobilisierenden Kraft religiöser Akteure verdankt. Denn deren Ansehen stieg in Mali in jenem Mass, wie das Ansehen der politischen Klasse verfiel – ebenjener PolitikerInnen, die vom Westen als Pfeiler der Demokratie alimentiert wurden. Mahmoud Dicko, der Vorsitzende des Islamrats, benennt diesen Widerspruch mit der ihm eigenen Schlitzohrigkeit: «Die Institutionen der Demokratie wurden zur Geisel genommen von Leuten, die sich nur bereichern wollten. Darum haben sich die Menschen mehr der Moschee zugewandt. Wieso soll das ein Rückschritt an Demokratie sein? Wenn Demokratie tatsächlich universell ist, muss sie sich unserer Realität und unseren Werten anpassen.»
Im Wahlkampf buhlten Politiker ihrerseits ganz direkt um die Unterstützung der Religiösen. Sie wurden bei der Sabati-Vereinigung vorstellig (deren Präsident Bah: «Sie baten um Audienz») und im Heimatdorf des Predigers Haidara. In dieses Örtchen am Niger pilgern einmal jährlich Zehntausende seiner AnhängerInnen. Die Wahlkämpfer versprachen nun eilends, die holperige Zufahrtspiste zu asphaltieren.
Auch IBK, der mutmasslich nächste Präsident, eröffnete seine Kundgebungen inzwischen mit einem Koranvers und mischte religiöse Formeln in politische Reden – bisher unüblich in Mali. Manche halten das für eine Attitüde, belächeln ihn als Pseudofrommen, der in Wirklichkeit das gute Leben liebe. Früher sei er in Nachtclubs gegangen, erwidert Keita darauf, aber das sei lange her.
Schon 2002, bei seinem ersten Anlauf zur Präsidentschaft, unterstützte ihn ein muslimisches Bündnis; damals nützte ihm das wenig. Heute ist die Stimmung eine andere. Ihn für einen guten Muslim zu halten, mag vielen MalierInnen dabei helfen, sich diesen Mann ein wenig schönzureden. Wenn seine Wagenkolonne heranrollt, jubeln die Kinder «I-B-K! I-B-K!», als handele es sich um eine Süssigkeit.
Nordmali : Schlechte Vorzeichen für Versöhnung
Seit der Unabhängigkeit 1960 haben sich Teile der Tuareg-Minderheit in Nordmali immer wieder gegen die Zentralregierung erhoben; erst verteidigten sie ihre nomadische Lebensweise, später verlangten sie die Eigenständigkeit von Azawad, wie sie Nordmali nennen.
Anfang 2012 begannen Tuareg von der Nationalen Bewegung für die Befreiung des Azawad (MNLA) eine erneute Rebellion. Weil die schlecht ausgestattete Armee den gut bewaffneten Rebellen unterlegen war, setzten meuternde Offiziere im März desselben Jahres den Präsidenten ab. Das Machtvakuum nach dem Putsch nutzten islamistische Gruppen, besetzten nun ihrerseits Nordmali, bis sie von dort durch französische Streitkräfte vertrieben wurden.
Das Tuareg-Problem bleibt indes ungelöst, auch nach der Präsidentenwahl. Um in der Region Kidal im Norden überhaupt Urnen aufstellen zu können, hatte die Übergangsregierung mit der MNLA ein vorläufiges Abkommen unterzeichnet; gleichwohl hat die MNLA die Wahl boykottiert. Aus Angst vor Vergeltung gingen in Kidal nur wenige wählen.
Spätestens sechzig Tage nach Amtsantritt des neuen Präsidenten beginnen Friedensgespräche; die MNLA fordert weiter einen Autonomiestatus und werde, «wenn nötig», wieder zu den Waffen greifen. Deren Europasprecher Moussa Ag Assarid hofft, Frankreich werde die Regierung in Bamako unter Druck setzen; Paris habe eine Schlüsselrolle in Mali. Das sind schlechte Vorzeichen für einen nachhaltigen Versöhnungsprozess, an dem alle Bevölkerungsgruppen des Nordens beteiligt sein müssten und der von der malischen Gesellschaft nicht als Diktat der GeberInnenorganisationen oder des französischen Präsidenten empfunden werden darf.