Roma in der Schweiz: Der dominante Blick der Fremdenpolizei

Nr. 33 –

Hier ein Befund der Berner Fremdenpolizei ohne gesicherte Quellenlage, dort eine empirische soziologische Studie aus Lausanne: Sie kommen auf unterschiedliche Einschätzungen darüber, wie Roma und ihre Kinder in der Schweiz leben.

Irgendetwas werden sie schon getan haben, oder? Genfer PolizistInnen bei der Kontrolle von Roma im Pâquis-Viertel. Foto: Didier Ruef

Am Anfang stand ein Gang durch seine Stadt. Bern im Dezember 2008, Vorweihnachtszeit. Doch Alexander Ott ist kein bisschen feierlich zumute. Denn was er in den Altstadtgassen sieht, ist happig: Am Boden kniende Romakinder mit amputierten Gliedmassen betteln PassantInnen an.

Schon in den Vorjahren hatte er Ähnliches gesehen. Für den Chef der Berner Fremdenpolizei war klar, dass es hier um Fälle von organisiertem Kindesmissbrauch und Menschenhandel ging. Ott sagte sich damals: Das darf es nicht geben. Nicht in seiner Stadt. Und auch sonst nirgendwo. Es sei nicht nur seine polizeiliche, sondern auch seine «ethische und moralische Aufgabe», dagegen etwas zu unternehmen. Das war die Geburtsstunde seines Projekts «Agora».

Bundesamt für Migration mit dabei

Das Projekt läuft seit März 2009. Sein Kernstück ist ein «spezialisiertes Heim» in der Stadt Bern. Darin sind Plätze reserviert für bettelnde Minderjährige, die nach behördlicher Abklärung als Opfer von Kindesmissbrauch und Menschenhandel gelten. Vom Heim aus soll schliesslich die Rückreise ins Herkunftsland organisiert werden.

«Agora» hat in den vergangenen vier Jahren eine erstaunliche Karriere hingelegt. Nicht als Praxis – bisher ist nicht ein einziges Kind im Heim platziert worden. Es ist die dem Projekt zugrunde liegende Sicht- und Erzählweise, die sich durchgesetzt hat.

Bald einmal begann sich die Koordinationsstelle gegen Menschenhandel und Menschenschmuggel (KSMM) des Bundes für das Projekt zu interessieren, ebenso der Schweizerische Städteverband. Dann sprang das Bundesamt für Migration (BFM) auf. Verschiedene Polizeiorgane sähen sich «mit einer Zunahme der strafbaren Handlungen konfrontiert – von nicht in der Schweiz ansässigen Angehörigen von EU- und EFTA-Mitgliedstaaten, insbesondere von Roma», hiess es in einem Rundschreiben des BFM an die kantonalen Migrationsbehörden vom Juni 2010. Und weiter: «Die betreffenden Personen betreiben die Bettelei nicht etwa passiv, punktuell und vereinzelt, sie treiben ihr Unwesen vielmehr in organisierten Banden und im grossen Stil. Die minderjährigen Bettlerinnen und Bettler werden nicht selten in Netzwerken, die sie zu ihrem eigenen Nutzen einsetzen, ausgebeutet.»

Im Oktober 2011 folgte der Schweizerische Städteverband mit einem offiziellen Informationspapier. Im März 2012 dann der Schritt an die Öffentlichkeit: eine konzertierte Medienoffensive der Berner Fremdenpolizei, der KSMM und des Städteverbands. Bis zu 600 Franken erbettle ein Kind an einem erfolgreichen Abend, hiess es an der Pressekonferenz in Bern. Im November durfte Alexander Ott in der Diskussionssendung «Club» des Schweizer Fernsehens sein Projekt vorstellen und anpreisen.

Die ignorierte Studie

Rund hundert Kilometer südwestlich von Bern, in Lausanne, erhielt der Soziologe und Hochschulprofessor Jean-Pierre Tabin Ende 2010 einen Auftrag vom Kanton Waadt. Der kantonale Jugendschutz wollte vom Forscher wissen, ob es in Lausanne einen Zusammenhang zwischen Bettelei und Kindesmissbrauch gebe. Im Mai 2012 veröffentlichte Tabin einen 120-seitigen Bericht, den er mit vier weiteren ForscherInnen erstellt hatte. Die Kernaussagen: Es fanden sich keinerlei Indizien für organisierte Netze, und eine Instrumentalisierung von Kindern zum Zweck des Bettelns war in keinem einzigen Fall feststellbar.

Im empirischen Bericht sind die Forschungsmethoden gleich am Anfang skizziert: Neben systematischen Beobachtungen haben die Forschenden 25 Interviews mit Bettelnden geführt. Weitere Gespräche fanden mit der Polizei, mit Sozialarbeiterinnen sowie Gesundheitsexperten statt. So ist ein detailliertes und differenziertes Bild des Bettelns in Lausanne entstanden. Zwischen Mai 2011 und April 2012 waren etwa sechzig BettlerInnen anwesend. Die Mehrheit stammte aus Rumänien, einige waren aus Ungarn und der Slowakei. Die Anzahl bettelnder Personen schwankte stark, es war ein häufiges Kommen und Gehen feststellbar. In der Regel blieben sie nicht länger als drei Monate – so lange dürfen sich EU-BürgerInnen ohne Aufenthaltsbewilligung in der Schweiz aufhalten. Sie kamen, meist mit Linienbussen, seltener im Privatauto, in kleinen Gruppen von Familienangehörigen oder Angehörigen desselben Dorfs. Ursache dieser Art der Migration war hauptsächlich die Armut, der sie in den Herkunftsländern ausgesetzt waren. Die täglichen Erträge, die die Bettelnden erwirtschafteten, lagen zwischen zehn und höchstens zwanzig Franken.

Abgesehen von einem Interview auf der Onlineplattform «Newsnet» (im Kulturressort) fand die Studie von Tabin in der Deutschschweiz keine Beachtung, selbst in der Romandie ignorierten sie die Medien weitgehend. Geschwiegen haben auch die Behörden und die Politik.

Die Erzählung hat Tradition

Der Blick des Fremdenpolizisten auf ein komplexes Thema ist zum Blick der Behörden, der Politik und der Medien geworden. Der Blick des Soziologen wird negiert. Das ist auch eine Aussage über den Zustand unserer Demokratie und über die Kräfte, die darin wirken.

Die fremdenpolizeilich geprägte gängige Sicht- und Erzählweise beruht auf Quellen und Daten, die geheim bleiben. «Polizeiliche Daten sind oft sensibel und nicht für die Öffentlichkeit bestimmt», antwortet Alexander Ott auf die Frage nach der Datengrundlage des «Agora»-Projekts. Er erwähnt eine umfangreiche Überwachungsaktion seiner Fremdenpolizei in jenem Dezember 2008, die zur Erkenntnis geführt habe, dass damals «mehrere organisierte Banden am Werk waren». Und er verweist auf ähnliche Fälle in Wien oder im französischen Annemasse in der Genferseeregion.

Der fremdenpolizeiliche Blick ist zwangsläufig eingeschränkt: Im Fokus steht immer ein möglicher Straftatbestand (Menschenhandel und Kindesmissbrauch), und es gibt jederzeit potenzielle TäterInnen, die auch immer und immer wieder benannt werden: «Meist handelt es sich um Angehörige der Roma.» Das ist der entscheidende Punkt.

«Es kommt durch diese Darstellung zur sozialen Konstruktion eines ‹Romaproblems› im Zusammenhang mit dem Betteln», sagt der Historiker Bernhard Schär vom Zentrum für Demokratie in Aarau. Ähnliches geschehe im Zusammenhang mit Einbrüchen oder der Strassenprostitution. Diese Konstruktion habe in der Schweiz – wie generell in Europa – eine lange und problematische Tradition. Bereits im 18. Jahrhundert habe die Bekämpfung der «Zigeunerplage» im deutschen Sprachraum eine bedeutende Rolle gespielt. Wie der holländische Historiker Leo Lucassen habe zeigen können, sei die sprunghafte Zunahme von «Zigeunerkriminalität» ab 1700 keinesfalls mit einer effektiven Zuwanderung von «Zigeunern» zu erklären, so Schär. Vielmehr begannen die Polizeiorgane, das Etikett «Zigeuner» auf immer mehr Gruppen anzuwenden.

Die historische Konstruktion des «Zigeunerproblems» hatte mit der Professionalisierung der Polizei zu tun. Je grösser das scheinbare Problem, desto mehr staatliche Unterstützung konnte sie für sich reklamieren. Gleichzeitig wurde so der Bedarf an zusätzlichen Massnahmen geschaffen, die ab dem 19. Jahrhundert unter dem Label «Zigeunerpolitik» zusammengefasst wurden.

Das historische Bewusstsein fehlt

Wie eine Studie der Bergier-Kommission belegt, führte der Bund 1906 eine Grenzsperre für «ausländische Zigeuner» ein und belegte sie mit dem Verbot, die Bahn oder Dampfschiffe zu benutzen. Fünf Jahre später errichtete das Justizdepartement eine zentrale Registratur mit erkennungsdienstlichen Daten für «ausländische Zigeuner», gefolgt von der Praxis, diese in Anstalten zu internieren. 1923 trat die Schweiz der Internationalen Kriminalpolizeilichen Kommission bei, die eine internationale «ZigeunerInnenkartei» erstellte. Diese stand ab 1938 für die Planung und Durchführung des Völkermords von Nazideutschland an «Zigeunern» zur Verfügung.

Im Innern nahm das Hilfswerk Kinder der Landstrasse der Stiftung Pro Juventute «Zigeunern» mit Schweizer Bürgerrechten zwischen 1926 und 1972 ihre Kinder weg. Pro Juventute hat ihre Verfolgungspolitik auch mit der angeblichen Missachtung des Kindeswohls legitimiert. Gegen diese Praxis habe es, wenn auch spät, immerhin Widerstand gegeben sowie eine historische Aufarbeitung, sagt Bernhard Schär. In Bezug auf ausländische Roma in der heutigen Schweiz fehle dieses Bewusstsein allerdings.

Und so pflanzt sich in der Schweiz eine Erzählung fort.