WOZ unterwegs: Die wahrscheinlich besten Kindergärten der Welt
Vor siebzig Jahren gingen sie in die Berge. Und als sie wieder herunterkamen, krempelten die antifaschistischen PartisanInnen vieles um. Das Bildungswesen zum Beispiel.
Inzwischen pilgern sie in Scharen nach Reggio Emilia: Erzieherinnen und Vorschulpädagogen, Lehrkräfte und BildungspolitikerInnen. Weil sie an konkreten Beispielen erleben wollen, wie repressionsfreie Vorschulen funktionieren, die die Kinder in den Mittelpunkt stellen und nicht die Institution. Weil sie etwas lernen wollen, das nicht in Lehrbüchern steht. Weil das, was unter dem Begriff Reggio-Pädagogik firmiert, beispielgebend ist für eine schon frühkindliche Entfaltung der Persönlichkeit, die mittlerweile auch in anderen Ländern Nachahmung findet. Und weil das Reggio-Prinzip mittlerweile über den Vorschulbereich hinausgeht: Denn seit zwei Jahren gibt es in der Stadt Reggio Emilia mit dem Internationalen Zentrum Loris Malaguzzi nicht nur einen Begegnungs- und Studienort, sondern auch eine Primarschule mit einem halben Dutzend Klassen.
«Ein Kind hat hundert Sprachen, hundert Hände, hundert Gedanken», schrieb Loris Malaguzzi, der die Reggio-Grundsätze in seinen Schriften zusammenfasste, und mithin «hundert Weisen zu hören, zu staunen, zu lieben.» 99 seiner hundert Sprachen aber, so Malaguzzi, «werden dem Kind geraubt». Die Reggio-Pädagogik hingegen, die in mittlerweile über sechzig Kindergärten der Provinz gepflegt wird, will dieses Potenzial erhalten. Hier lernen die Erzieherinnen, Künstler und manchmal auch professionelle PuppenspielerInnen von den Kindern, indem sie zuhören, auf sie eingehen, ihre Wahrnehmung ernst nehmen und sie auf ihrem Weg zu selbstgesteckten Lernzielen begleiten – und das seit über sechzig Jahren, seit der Zeit unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg.
Dass schon so früh selbstständiges Denken und Handeln im Mittelpunkt der später nach dem Ursprungsort Reggio benannten Philosophie des Lernens stand, hat mit den damaligen politischen Verhältnissen zu tun. Ab dem 8. September 1943, dem Beginn der Besetzung Norditaliens durch deutsche Truppen, waren viele junge Männer und Frauen in die Berge des Apennins geflüchtet, wo sie gegen italienische Faschisten und deutsche Nazis kämpften. Nach ihrem Sieg und der Befreiung im April 1945 kehrten sie in die Ebenen zurück, wo während der Zeit des Widerstands vor allem Partisaninnen aktiv gewesen waren – entschlossen, dem Faschismus, der in Italien eine ganze Generation geprägt hatte, nie wieder Raum zu bieten, nicht politisch und nicht in den Köpfen.
Revolutionär bis heute
Während manche Expartisanen in die Politik gingen oder Kooperativen aufbauten, engagierten sich viele der früheren Partisaninnen im Bildungsbereich. Warum, so fragten sie sich, dürfe eigentlich nur die katholische Kirche Kindergärten betreiben, jene Kirche also, die sich mit dem faschistischen Mussolini-Regime problemlos arrangiert hatte? Also forderten sie die Einführung kommunaler Kindergärten (die es bis dahin nicht gab), setzten in Rom eine Gesetzesänderung durch, überwanden mit viel Fantasie praktische Probleme und den Widerstand der alten Kräfte – und entwickelten in den konkreten Auseinandersetzungen ein ganz anderes Erziehungskonzept, das damals revolutionär war – und es bis heute ist.
Die Reggio-Pädagogik entstand mithin aus einer Initiative von unten, entwickelt und organisiert von Frauen, die selbst staunten, als in den neunziger Jahren das US-Magazin «Newsweek» eine Liste der besten Bildungseinrichtungen weltweit veröffentlichte. Dort rangierten ihre Kindergärten ganz oben – auf dem ersten Platz.
Überleben in der Krise
Nicht nur die Reggio-Pädagogik verdankt ihre Ursprünge den PartisanInnen. Auch die Genossenschaftsbewegung in der Provinz Reggio (siehe WOZ Nr. 51/10 ) erlebte nach dem Zweiten Weltkrieg einen neuen Aufschwung. Derzeit erwirtschaften die stark vernetzten Kooperativen ein Drittel des lokalen Sozialprodukts. Sie stehen aber unter Druck – auch weil der überschuldete italienische Staat seine Rechnungen nicht mehr bezahlt. Können sie die Krise überstehen? Was ist von ihnen und der Reggio-Pädagogik zu lernen? Und wie sehen die PartisanInnen von damals die politischen Verhältnisse heute? Antworten gibt die WOZ-Reise im Oktober.
Interessiert? Informieren Sie sich hier.
Mit der WOZ nach Reggio
Die WOZ-Reise nach Reggio Emilia vom 13. bis 19. Oktober 2013 führt uns zu ZeitzeugInnen der PartisanInnenbewegung, die über ihren Kampf gegen den Faschismus berichten, zu den Genossenschaften (mit Kooperativenbesichtigungen) und zu den Schulen der Reggio-Pädagogik.
Im Pädagogikteil der Reise besuchen wir unter anderem das neue Internationale Zentrum Loris Malaguzzi, die kommunale Kinderkrippe Ginestra sowie das Projekt Progettinfanzia und sprechen mit Pädagoginnen, Kommunalvertretern und AktivistInnen über die Geschichte der Elterninitiative, über die Reggio-Philosophie und deren Umsetzung, über linke Lokalpolitik und kommunale Kindereinrichtungen.