«Burrnesha»: Im weiblichen Auge liegt der männliche Blick

Nr. 34 –

Im Norden Albaniens werden Mädchen, die keine Brüder haben, beim Tod des Vaters als dessen Nachfolger bestimmt. Als «Schwurjungfrauen» übernehmen sie seine sozialen Funktionen und gleichen sich auch äusserlich an.

Alle im Tal kannten Angela. Weit droben, am Rand eines Walliser Dorfs, bewirtschaftete sie einen kleinen Bauernhof, allein: sechs Kühe, etwas Getreide. Breitbeinig stand sie neben der Scheune, breitbeinig schritt sie ins Dorf, mit kurzem Haar, Zigarette im Mund. Nie trug sie etwas anderes als Werkkleider. Mit den andern Männern ging sie in den Wald zum Gemeindewerk; an der Fasnacht trug sie die den Männern vorbehaltene furchterregende Tracht der Tschäggätta. Sie müsse sich jeweils den Bart abrasieren, flüsterten die Kinder kichernd.

Nach dem plötzlichen Tod des Vaters hatte Angela als ältere von zwei Töchtern den Hof übernehmen müssen. Das ist eine nicht ganz ungewöhnliche Geschichte aus der Schweiz.

Auch in Albanien übernahmen die heute 80-jährige Osmani und Qamile (86) früh Aufgaben eines Haushaltsvorstands. Quamile wurde als neuntes Mädchen geboren, und ihre Schwestern versteckten sie anfänglich vor dem Vater, der, enttäuscht, schon wieder keinen Sohn bekommen zu haben, geschworen hatte, sie zu töten. Als der Vater ein paar Jahre später starb, fühlte sie sich zur Rolle des einzigen Sohns verpflichtet und führte – während ihre Schwestern allmählich wegheirateten – den Hof weiter. Osmani musste schon mit neun Jahren für die kranken Eltern sorgen und wurde bald zum Familienoberhaupt, arbeitete zuerst als Schäferin, dann als Bergmann. Ja, als Bergmann. Denn anders als Angela übernahmen Osmani und Quamile ihre Rolle als Mann sozial offiziell sanktioniert. Sie sind beide sogenannte Burrneshas, «Schwurjungfrauen». So wird in einem entlegenen Gebiet im Norden Albaniens eine Frau zu einem Mann. Wenn der Haushaltsvorstand, der Patriarch, ohne männlichen Nachkommen stirbt, kann eine Burrnesha seine Stelle einnehmen. Vor der Familie schwört sie ihrem Geschlecht ab und bleibt Jungfrau. Verbürgt wird der Vorgang durch einen Gesetzeskodex, den Kanun.

Schwurjungfrauen waren früher in verschiedenen Gebieten des Balkans verbreitet; weniger als vierzig sind in Nordalbanien jetzt noch übrig geblieben. Vor sechs Jahren drehte die Fotografin Pepa Hristova einen Fernsehfilm über sie, jetzt hat sie ein eindrückliches Buch vorgelegt. In die westliche Faszination mischt sich auch immer ein voyeuristischer Blick auf diese exotische Lebensform.

Die gemachten Geschlechter

«Man wird nicht als Frau geboren, sondern dazu gemacht»: Der Satz von Simone de Beauvoir aus «Das andere Geschlecht» von 1949 markiert den Beginn der modernen Frauenbewegung. Seither hat sich diese Erkenntnis in der Differenzierung von «Geschlecht» als biologischer Kategorie und «gender» als sozialer Funktion verfestigt. Natürlich, in patriarchalen Gesellschaften hat es immer wieder Einsprengsel weiblicher Selbstbestimmung gegeben, wobei männliche Rollen übernommen wurden – die mythischen Amazonen etwa oder die Kriegerjungfrau Jeanne d’Arc. Magisch umspielt wird das in den Geschlechterverwirrungen bei William Shakespeare, etwa in «Twelfth Night» («Was ihr wollt»).

Bemerkenswert lange überlebten die Hosen als tertiäres Geschlechtsmerkmal. Der Kampf darum, wer die Hosen anhatte, reicht über die englischen Blaustrümpfe und die US-amerikanischen Bloomers bis heute. Real sind vor allem Kriege die grossen Gleichmacher. Während die Männer töten und getötet werden, übernehmen die Frauen bislang Männern vorbehaltene Funktionen in der Arbeitswelt, im öffentlichen Leben. Im 20. Jahrhundert läuft parallel dazu der Aufstieg der Jeans als genderübergreifendes Kleidungsstück oder ein totalitärer Versuch wie die geschlechtsneutrale Mao-Uniform.

Schwurjungfrauen sind dagegen ein Rück- und ein Vorgriff. Der Begriff entspringt einem männlichen Blick. Er legt diese Frauen auf das fest, was sie nicht mehr sein werden: Mütter. Einige werden schon als Kleinkinder vom Vater dazu bestimmt. Viele betonen, als Kinder nur mit Buben gespielt, nie Mädchenkleider getragen zu haben. Die 30-jährige Ilmije zog mit den Buben auf die Alp und entschied sich nach dem Tod der Mutter, eine Burrnesha zu werden. Drande (53) verbrannte ihre Mädchenkleider nach der Schulzeit und schwur den Eid. Bei einem Unfall mit einer Handgranate verlor sie beide Hände. Als Mann, meint sie, sei es ihr da besser ergangen: «Wer braucht schon eine Frau ohne Hände?» Hausarbeit wird bei Frauen offenbar vorausgesetzt, sonst werden sie unnütz. Beim Mann dagegen wird die Behinderung als solche akzeptiert.

Aber es gibt individuell abweichende Motive. Hakije (59) prophezeite ein Derwisch, sie werde ein Mann, und die Eltern hatten nichts gegen ihre Wahl. Alle betonen, sie hätten sich freiwillig entschieden. Aber was heisst schon freiwillig? Nur die 66-jährige Qjuste war einst verheiratet, hatte ein Kind, liess sich dann scheiden, und um ihr Kind nicht zu stigmatisieren, wurde sie eine Burrnesha und entsprechend gesellschaftlich besser akzeptiert.

Männliche Insignien

Albanien war von 1946 bis 1990 im Namen des Kommunismus eine der rückständigsten und rigidesten Erziehungsdiktaturen, aber sogar die bot gelegentlich Vorteile. Arbeitskräfte wurden immer gebraucht, und so fanden auch Burrneshas einen Job, etwa im Bergbau oder in der Fischerei, ohne soziale Diskriminierung.

Einige trauern den alten Zeiten unter Enver Hoxha nach, etwa die 54-jährige Diana. Sie diente beim Militär und sei bis zum General aufgestiegen – eine eher unwahrscheinliche Behauptung. Immerhin verfügt sie als eine der wenigen Burrneshas über eine gute Staatspension. Und sie ist diejenige, die sich am stärksten zum Mann stilisiert, sich mit männlichen Insignien und Verhaltensweisen umgibt: Männerarmbanduhr, Krawatte, ein Handy um den Hals, männliches Eau de Cologne, laute Stimme, ständig Witze erzählen, auch schlüpfrige. Aber dann zu Hause: Würde ein richtiger Mann solche blumenverzierten Kissen auf seinem Sofa ausbreiten? Und ein solches Bild aufhängen, einen Frauenkopf mit wallender Mähne über Schimmeln, wie den Nebeln von Avalon entstiegen? Ist das eine verwehte Erinnerung an eine andere Seite von Diana oder Kitsch, wie er auch in anderen albanischen Haushalten an der Wand hängen mag?

Nachhall und Vorschein

In den Burrneshas hallt eine ländliche Kultur nach. Und man mag den Vorschein einer aufgehobenen Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern, einer Auflösung der «gender», darin sehen. Das ist ein Wunschbild. Denn die Form der Schwurjungfrau hat einzelnen Frauen eine Chance zu einem weniger gehinderten Leben geboten, aber sie fügt sie zugleich in patriarchale Strukturen.

Durch die soziale Form werden individuelle Schicksale sichtbar. In diesen Bildern sprechen einzelne Menschen zu uns. Es sind zuweilen karge, ärmliche Existenzen. Osmani zum Beispiel wohnt in einem halb zerfallenen Haus, kann weder lesen noch schreiben. Um sie, kinderlos, weht auch der eisige Hauch der Einsamkeit. Selbstbewusste und traurige Blicke erwidern den unseren. Die Zweideutigkeit ihrer Rolle ist ihnen eingeschrieben.

Pepa Hristova: «Sworn Virgins». Berlin 2013. Kehrerverlag. 
228 Seiten. 67 Franken.