Transidentes Leben: Sein dürfen
Intoleranz und Gewalt gegenüber trans Menschen haben in Teilen der Gesellschaft zugenommen, wie eine neue Studie zeigt. Wie gehen Betroffene damit um? Die persönliche Geschichte eines Mannes, der «ein Riesenglück» hatte.

und Normen»: Benjamin Hermann.
Das erste Mal mit Badehose im Schwimmbad wird Benjamin Hermann nie vergessen: «Es war ein derart befreiendes Gefühl.» Es war im Winter 2016. Endlich hatte er keine störenden Brüste mehr, die er verstecken wollte. Einige Monate zuvor hatte er sie sich entfernen lassen. «Meine Brüste haben mich so belastet. Ich hatte keine Angst, den falschen Schritt zu tun», sagt Hermann im Rückblick auf die Operation. Seit er sich erinnern kann, fühlt sich der heute 26-Jährige nicht dem Geschlecht zugehörig, das man ihm nach der Geburt zugeordnet hatte. Er war kein Mädchen, wie es auf seiner Geburtsurkunde zu lesen war.
Wenn Politiker:innen und Medien polemisch über Transidentitäten diskutieren, betrifft das Menschen wie Benjamin Hermann direkt. Eine vergangene Woche publizierte Studie, unter anderem im Auftrag von Amnesty International, stellt fest: Die Schweizer Bevölkerung steht der LGBTIQ+-Community grundsätzlich offen und wohlgesinnt gegenüber, trotzdem halten sich aber in Teilen der Gesellschaft Vorurteile und Intoleranz, insbesondere gegenüber trans und intergeschlechtlichen Menschen (vgl. «Intoleranz hat zugenommen» im Anschluss an diesen Text). Die Befragten berichteten zudem – häufiger als im EU-Durchschnitt – von einem hohen Ausmass an Gewalt- und Diskriminierungserfahrungen.
Auch Theologiestudent und Militärseelsorger Hermann muss sich gegen Gerüchte, Vorurteile und Ablehnung wehren. Er litt seelisch und körperlich, weil er sein Ich nicht zeigen konnte. Auf seinem Weg bekam er aber auch Liebe und Unterstützung. Die zunehmende, gefährliche Aggression gegen trans Menschen nimmt er mit Besorgnis wahr: «Trans rüttelt an unserer Gesellschaftsordnung, es rührt an Vorstellungen und Normen», sagt er. «Einst waren es Themen wie Homosexualität oder Abtreibung, jetzt wird gegen trans Personen Stimmung gemacht.» Hermann hat die Erfahrung gemacht, dass es trans Männer einfacher haben als trans Frauen, «bei mir haben die Menschen oftmals mehr Verständnis. Das hat mit patriarchalen Strukturen zu tun, der Wertschätzung des männlichen Geschlechts. Als trans Frau wird man schneller abgewertet.»
Albtraum Pubertät
Geboren in der Gemeinde Baar im Kanton Zug, wuchs Benjamin Hermann in einem liberalen Elternhaus auf. Die Eltern engagierten sich in der SP. An seinem ersten Tag im Kindergarten trug er ein Kleid. «Ich mochte das nicht, aber ich wollte dazugehören.» Den anderen Kindern, so sagt er, fiel auf, dass er sich in Mädchenkleidern nicht wohlfühlte. Sie fragten ihn, ob er ein Bub sei. «Natürlich wäre ich gerne ein Bub, aber ich bin es nicht», habe er geantwortet. Auf dem Foto eines Weihnachtsfests sieht er unglücklich aus; seine Grossmutter hatte ihm eine Puppe geschenkt.
Das Missverhältnis zwischen dem körperlichen und dem empfundenen Geschlecht wurde immer grösser – doch Hermann konnte das Gefühl nicht einordnen. Er wollte Fussball spielen, aber nicht in einer Mädchengruppe. Als er sich in der sechsten Klasse die langen Haare kurz schneiden liess, kursierten gleich Gerüchte, er habe Krebs oder sei lesbisch. Mitschülerinnen schickten ihm via Facebook sexuell anzügliche Botschaften. Über das Gehabe von Frühpubertierenden hätte er lachen können, wenn das Thema nicht so brennend gewesen wäre. Zwar blieb Hermann bisher von physischer transfeindlicher Gewalt verschont, sieht sich aber immer wieder mit Mikroaggressionen konfrontiert: etwa wenn er schon zu Beginn eines Gesprächs nach seinen Genitalien gefragt wird.
In den vergangenen Jahren hatte das Thema Transidentität politisch Hochkonjunktur. Während zum einen Sensibilisierungs- und Aufklärungskampagnen stattfanden, erhielten zum anderen transfeindliche Beiträge von Politiker:innen und Prominenten wie der Schriftstellerin J. K. Rowling viel Aufmerksamkeit. «Trans Menschen gab es immer. Es sind heute nicht mehr, aber sie sind sichtbarer», sagt Sozialberater Raphaël Guillet. «Sie fordern gesellschaftliche Entwicklungen ein, weil sie in einer binären Gesellschaft Mühe haben, zu existieren.» Guillet arbeitet beim «Checkpoint» in Bern, einer von drei Beratungsstellen in der Schweiz, die trans Kinder und Jugendliche sowie deren Eltern begleiten.
Als Benjamin Hermann mit zwölf Jahren erkannte, dass er trans ist, gab es noch kaum solche Beratungsangebote. Im Internet hatte er Dokumentationen von Geschlechtsangleichungen gesehen; aus seiner kindlichen Perspektive seien das aber meistens alte Menschen in fernen Ländern gewesen. Ein Kollege seiner Schwester begann mit einer Transition vom weiblich zugeordneten zum männlichen Geschlecht. «Bis zu diesem Zeitpunkt habe ich nicht gewusst, dass es in der Schweiz trans Menschen gibt. Nun konnte ich meine Gefühle benennen.»
Dann kam die Zeit, in der Hermanns Pubertät einsetzte. «Es war wie eine Kollision. Wenn ich morgens aufwachte, passte mein Körper nicht zu meinem Selbstbild.» Er trug immer noch kurze Haare, versteckte seinen Körper unter schlabbriger Skaterkleidung und beugte die Schultern nach vorne, um die wachsenden Brüste weniger sichtbar zu machen. Später band er sie ab. Noch verschwieg er seinen Seelenschmerz. «Es war mir ganz wichtig, dass meine Familie nichts mitbekommt. Ich wollte sie nicht belasten. Ich wusste aber auch: Ich kann keine erwachsene Frau werden.»
Abschiedsbriefe und Selbsthass
Laut dem Bundesamt für Statistik haben sich im Jahr 2022 486 Personen im Spital operativ für eine Geschlechtsangleichung behandeln lassen. Bei 68 Prozent handelte es sich um eine Anpassung vom weiblichen zum männlichen Geschlecht. Das Durchschnittsalter dieser Gruppe lag bei 27 Jahren. Wie viele trans Menschen in der Schweiz leben, lässt sich nicht beziffern. Das Transgender Network Switzerland zitiert hierzu Studien aus dem Ausland, die völlig verschiedene Häufigkeiten angeben, von 0,3 bis 8,4 Prozent der Bevölkerung. Es handelt sich jedenfalls um eine Minderheit, über die sich eine andere Minderheit lautstark aufregt.
Woher kommt das? «Das Thema wird benutzt, um andere politische Anliegen durchzubringen», sagt Raphaël Guillet. Er glaubt, dass sich Transidentität darum so gut instrumentalisieren lasse, weil Geschlecht ein Merkmal sei, das die Gesellschaft strukturiere. Dass es trans Menschen gebe, mache bewusst, wie wackelig das Ganze sei. «Es gibt Leute, die nehmen das als eine existenzielle Bedrohung wahr. Sie verlieren damit eine Säule ihrer eigenen Identität», so Guillet. Oftmals seien es Personen, die eine privilegierte Position hätten und gesellschaftliche Verschiebungen nicht unbedingt befürworteten.
Benjamin Hermanns Not wurde grösser, je mehr die körperlichen Veränderungen voranschritten. Er schrieb Abschiedsbriefe, hortete Medikamente, dachte über einen Suizid nach. Er ritzte sich und stand so lange in einem kalten Bach, bis er nichts mehr fühlte. «Ganz schlimm war es, als ich mit vierzehn Jahren meine Periode bekam. Das war für mich der Inbegriff für Weiblichkeit, und ich musste mich um einen Teil des Körpers besonders kümmern, den ich ablehnte.» Weil er suizidal war, ging er in eine Therapie, doch er wagte lange nicht, über seine innersten Gedanken zu reden – bis es nicht mehr ging. In einem Café lächelte ihn ein Mädchen an, und es machte ihn traurig zu wissen, dass sie ihn anlächelte, weil sie ihn für einen süssen Jungen hielt. Unter Tränen erzählte er seiner Familie die Wahrheit. Seine Mutter und die beiden Schwestern waren nicht überrascht. Sie gaben ihm Rückhalt – bis heute. «Ein Riesenglück», sagt er.
Zerrissenheit beendet
Mit sechzehn entschied sich Benjamin Hermann fürs Outing. Er benutzt den Begriff «Offenbarung»: «Ich zeige etwas von mir.» In der ersten Geburtstagseinladung nach seiner Offenbarung nannte er seinen alten und neuen Namen, weil er noch nicht den Mut hatte, ausschliesslich mit Benjamin angesprochen zu werden. Im Biounterricht durfte er sich vor seinen Mitschüler:innen erklären. «Ich hatte den Rückhalt meiner Lehrer:innen, das hat es mir erleichtert.» Einige Jungen in seiner Schule hätten dumme Sprüche gemacht, sich aber später dafür entschuldigt. Nur ein Teil seiner Verwandten väterlicherseits lehnt seinen Weg ab. Es seien stramme SVP-Wähler:innen, und wenn sie ihn bei Familientreffen sähen, ignorierten sie ihn so lange wie möglich oder fragten, wer denn der Fremde sei. Er lächelt, während er das erzählt. «Ich sage dann: ‹Ich bin der Sohn meines Vaters und war schon als Kind auf eurem Bauernhof.›»
Mit siebzehn Jahren begann Hermann die Hormontherapie, endlich blieb die verhasste Periode weg. Er liess seine Genitalien anpassen, und nach zahlreichen Operationen ist seine Transition heute vollständig abgeschlossen. Die innere Zerrissenheit ist endlich beendet. Hermann hat sich für Offenheit entschieden, angesichts des politischen Klimas ein mutiger Schritt. Er macht heute Aufklärungsarbeit in Kirchen und anderen Institutionen, um auch anderen trans Menschen zu helfen. «Ich habe die Ressourcen, mich Ablehnung entgegenzustellen, weil ich von meiner Partnerin und meiner Familie unterstützt werde. Und weil mein Glaube mir hilft.»
Studie zu Queerfeindlichkeit in der Schweiz: Intoleranz hat zugenommen
LGBTIQ+-Themen bekämen in der Öffentlichkeit zu viel Platz – das finden insbesondere männliche, ältere, religiöse und politisch rechts stehende Menschen, wie eine vergangene Woche publizierte Studie feststellt. Amnesty International hatte gemeinsam mit anderen Menschenrechtsorganisationen eine repräsentative Bevölkerungsumfrage und eine LGBTIQ+-Communitybefragung in Auftrag gegeben. Die Untersuchung misst das Ausmass der Diskriminierung in der Schweiz – und macht so erstmals einen Vergleich mit der EU möglich.
Sie bestätigt unter anderem bereits Bekanntes: Für viele der Befragten aus der LGBTIQ+-Gemeinschaft gehören Beleidigungen, Bedrohungen und unangemessenes Anstarren zum Alltag. Mehr als jede vierte Person hat in den vergangenen fünf Jahren Gewalt erfahren – wobei viele Vorfälle nicht gemeldet wurden. Zwar werden LGBTIQ+-Rechte von einer Mehrheit in der Schweiz akzeptiert, doch aktiv dafür einsetzen mögen sich weit weniger: Die Haltung der Bevölkerung lasse sich bestenfalls mit «zurückhaltender Neutralität» beschreiben, folgert die Studie. Und: Deutlich weniger Leute wollen sich gemäss der Befragung für die Rechte von trans und intergeschlechtlichen Personen einsetzen, als sie dies etwa bei lesbischen und schwulen Menschen tun würden.
Darüber hinaus macht die Studie deutlich: Rechte Hetze mit Begriffen wie «Gender-Gaga» oder «Woke-Wahnsinn» oder die gefährliche Beschreibung von Trans- und Nonbinärsein als «Trenderscheinung» führten in den letzten fünf Jahren zu einer Zunahme von Vorurteilen, Intoleranz und Gewalt. Jetzt sei ein Bekenntnis von Politik und Behörden zum Schutz der Community dringend nötig, fordert Amnesty International. Anlaufstellen sollten institutionalisiert und öffentliche Institutionen wie Asylwesen, Schulen und Polizei vermehrt sensibilisiert werden. Ein besonderer Handlungsbedarf besteht zudem im Gesundheitsbereich: Dieser hat im EU-Vergleich auffallend schlecht abgeschnitten.