Israel/Palästina: Palästinas verfolgte Dreikäsehochs
Arabische Kinder werden in israelisch besetzten Gebieten oft als potenzielle Terroristen behandelt. Israelische und Schweizer MenschenrechtsaktivistInnen weisen auf schockierende Zustände hin.
Achtzehn Schweizer nichtstaatliche Organisationen (NGOs) haben sich Anfang der Woche mit einer Petition an den Bundesrat und die aussenpolitischen Kommissionen des eidgenössischen Parlaments gewandt: Als Depositarstaat der Genfer Konventionen soll sich die Schweiz dafür einsetzen, dass sich Israel auch in den besetzten Gebieten an das Völkerrecht und insbesondere die Uno-Kinderrechtskonvention hält. Daniel Sieber, Mitglied der Berner Mahnwache für einen gerechten Frieden in Israel/Palästina, sagt zum Anliegen der von ihm mitinitierten Petition: «Wir wollen nicht tatenlos zusehen, wenn Kinder unter dem israelischen Besatzungsregime im Westjordanland stets wieder die traumatisierende Erfahrung machen, dass ihr Leben, ihre Würde, ihr Bewegungsdrang und die Autorität ihrer Eltern nichts wert sind.»
Fünfjähriger «Straftäter»
Israelische Militärangehörige benehmen sich oftmals so, als seien palästinensische Kinder grundsätzlich terroristisch veranlagt. Das zeigte sich im Juli im südlichen Westjordanland, einem von Israel besetzten palästinensischen Gebiet: Wadi Maswadeh war fünf Jahre und neun Monate alt, als er festgenommen wurde. Angeblich hatte der palästinensische Dreikäsehoch in Hebron nahe am Grab der Patriarchen einen Stein gegen ein Siedlerauto geworfen. Israelische Militärs drohten Wadis Vater, ihn zu verhaften, wenn er nicht helfe, den Buben der palästinensischen Polizei zu übergeben. Dem Vater verbanden die Soldaten später die Augen, und sie legten ihm Handschellen an. Schliesslich trieben sie ihn und seinen schluchzenden Sohn durch bevölkerte Strassen, um sie blosszustellen. Erst nach zwei Stunden war der Spuk vorbei: Nach einer kurzen Befragung liess die palästinensische Polizei die beiden frei.
Zwei MitarbeiterInnen der israelischen Menschenrechtsorganisation B’Tselem haben die Szenen gefilmt. Die Videos zeigten ein «absolut ungesetzliches Vorgehen», meint Jessica Montell, Direktorin von B’Tselem: Hier gehe es nicht um Fehler von Einzelnen, sondern um ein militärisches Verhaltensmuster. Sieben Soldaten und zwei Offiziere waren involviert; keiner schien auch nur die geringsten Skrupel zu haben. «Das hat uns alarmiert», sagt Montell.
Diskriminierung in Theorie und Praxis
1991 ratifizierte Israel die Uno-Konvention über die Rechte des Kindes. Die Vertragsstaaten müssen die darin verankerten Rechte jedem Kind gewährleisten, das ihrer Hoheitsgewalt untersteht. Im eigenen Land sei Israel seither vielen Forderungen der Konvention nachgekommen, als Besatzungsmacht habe es indes «erheblichen Nachholbedarf», konstatieren neun britische JuristInnen im Bericht «Kinder in Militärgewahrsam», den sie vor einem Jahr vorlegten.
Die Unterschiede beginnen schon in der Theorie: Israelis unterstehen israelischem Zivil- und Strafrecht selbst dann, wenn sie in Siedlungen auf besetztem palästinensischem Gebiet leben. Die palästinesische Bevölkerung im Westjordanland hingegen untersteht israelischem Militärrecht, jedenfalls in den alles beherrschenden Sicherheitsfragen.
So müssen israelische Kinder frühestens im Alter von vierzehn Jahren mit Freiheitsstrafen rechnen, palästinensische jedoch bereits mit zwölf. Ein inhaftiertes israelisches Kind muss innert 24 Stunden einer Richterin oder einem Richter vorgeführt werden, soll innert 48 Stunden einen Verteidiger erhalten und darf höchstens 40 Tage ohne Anklage festgehalten werden. Ein palästinensisches Kind muss hingegen bis zu 8 Tage auf eine Richterin, bis zu 90 Tagen auf einen Anwalt und bis zu 188 Tage auf eine formelle Anklage warten.
In Bil’in, einem Weiler bei Ramallah in der nördlichen Westbank, demonstrieren Einheimische seit Jahr und Tag gegen den Sperrwall, der die palästinensischen Gebiete isoliert. Unweit davon liegt Nabi Saleh, wo sich ein ganzes Dorf regelmässig zum Protest gegen die Beschlagnahmung des Bodens und einer Quelle durch jüdische SiedlerInnen versammelt. An beiden Orten stehen sich palästinensische Jugendliche und israelische Soldaten gegenüber. Die einen schleudern Steine, die andern rücken mit Tränengas, Gummigeschossen und Stinkbomben an.
Um Steinewerfer handelt es sich bei den meisten der 195 minderjährigen Palästinenser, die sich Ende Juli in israelischer Haft befanden. Ein Vierzehnjähriger schildert in einem jüngst von B’Tselem veröffentlichten Bericht, wie er auf dem Polizeiposten von Gusch Etzion, einem Siedlungsblock zwischen Bethlehem und Hebron, verhört wurde: «Er schlug meinen Kopf gegen die Wand, traktierte mich mit Fäusten, trat mich in die Beine. Der Schmerz war kaum auszuhalten. Dann sagte er schmutzige Dinge über mich und meine Mutter. Er drohte, mich zu vergewaltigen, wenn ich nicht zugebe, Steine geworfen zu haben. Das erschreckte mich, er war äusserst grausam, und ich war allein mit ihm im Raum.»
Jetzt reagieren auch hiesige NGOs und fordern, dass für die Hunderte von palästinensischen Kindern, die jährlich mit der israelischen Militärjustiz in Berührung kommen, dieselben Normen gelten wie für die gleichaltrigen Israeli. Die Schweiz solle darüber mit Israel einen Dialog führen und wenn nötig «Konsequenzen bedenken».
Menschenrechtsorganisation B’Tselem: www.btselem.org
Bericht «Kinder in Militärgewahrsam»: www.childreninmilitarycustody.org