Israel: Die vertane Chance nach dem Alarmsignal
Zwei Terrorakte durch jüdische Israelis schienen das Land aufzurütteln. Doch die Regierung macht fast genauso weiter wie bisher. Und die Aggression wächst auch zwischen JüdInnen.
Der Aufschrei war gross. Vor rund zwei Wochen erschütterten zwei terroristische Akte weite Teile der israelischen Gesellschaft. Im palästinensischen Dorf Duma südöstlich von Nablus im Westjordanland warfen am 31. Juli radikale Siedler Brandbomben in zwei Häuser. Ein Baby verbrannte, der Vater starb am Samstag an den Folgen des Anschlags, und auch die Mutter und ein vierjähriger Bruder erlitten schwerste Brandverletzungen. Tags zuvor hatte in Jerusalem ein ultraorthodoxer Jude bei der alljährlichen Gay-Pride-Parade in Jerusalem sechs TeilnehmerInnen niedergestochen. Zwei von ihnen wurden schwer verletzt, eine davon, ein sechzehnjähriges Mädchen, starb kurz darauf.
Das israelische Dilemma
Es waren zwei Taten, die in tragischer Weise die zwei grössten Probleme Israels offenlegen: zum einen die permanente Besetzung und aggressive Besiedlung des Westjordanlands, was eine Zweistaatenlösung verunmöglicht. Zum anderen die zunehmende Kluft innerhalb der jüdischen Mehrheitsbevölkerung Israels – nicht nur zwischen den höchst ungleichen ethnischen Gruppen, sondern auch zwischen verschiedenen Wertehaltungen, die von ultraorthodox bis ultraliberal, von ultranationalistisch bis internationalistisch reichen.
Und wenn beide Probleme zusammenprallen, droht die Katastrophe. So zumindest die These des marxistischen Sozialwissenschaftlers Moshe Zuckermann: «Sollte sich das politische Establishment doch noch entschliessen, die Zweistaatenlösung durchzusetzen, droht ein Bürgerkrieg», sagt der Professor an der Universität Tel Aviv. «Die Alternativen zur Zweistaatenlösung wären entweder ein binationales Israel, das den ‹jüdischen Staat› nur schon wegen der wachsenden arabischen Bevölkerung infrage stellen würde, oder ein formaler Apartheidstaat, der irgendwann von der internationalen Gemeinschaft nicht mehr toleriert würde», so Zuckermann, der als einer der profundesten Kenner und Kritiker der israelischen Politik gilt. «Für eine Zweistaatenlösung müsste Israel aber die Siedlungen von Hunderttausenden Israelis im Westjordanland räumen. Dann würden wohl einige Tausend SiedlerInnen mit massiver Waffengewalt Widerstand leisten, auf SoldatInnen schiessen und selbst getötet werden. Eine solche Dynamik könnte die jüdische Gesellschaft Israels vollends spalten.»
ExtremistInnen in der Regierung
Die beiden Terrorakte müssten also ein schrilles Alarmsignal für die politische Führung in Israel sein. Staatspräsident Reuven Rivlin verstand das sofort. Der Politiker des rechten Likud-Blocks zeigte nicht nur Empathie gegenüber den Opfern. An einer Solidaritätskundgebung gegen Gewalt und für Toleranz, die am Tag nach dem Duma-Anschlag in Jerusalem stattfand, sagte er auch: «Das demokratische und jüdische Israel braucht heute einen Weckruf.»
Ein paar Tage lang schien die israelische Mehrheitsgesellschaft und mit ihr das Politikestablishment tatsächlich an gewissen lieb gewonnenen Illusionen zu zweifeln. Oppositionsführer Jitzhak Herzog von der Arbeiterpartei forderte, dass man nun nicht wieder zur Tagesordnung übergehen dürfe, weil «uns jüdische Terroristen genauso bedrohen wie ihre Brüder, die islamistischen Terroristen». Selbst der rechtsnationalistische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu verurteilte die Anschläge vorerst vorbehaltlos: «Wir sind entschlossen, Hass, Fanatismus und Terrorismus, egal von welcher Seite sie kommen, rigoros zu bekämpfen.»
Als konkrete Massnahme wird die Administrativhaft, die eine unbegrenzte Inhaftierung von Verdächtigen ohne Anklage und Verfahren ermöglicht und bisher konsequent gegen PalästinenserInnen angewendet worden ist, nun auch auf jüdische Extremisten ausgedehnt. Drei von ihnen sind so aus dem Verkehr gezogen worden. Zudem wurden ein paar sogenannte Outposts geräumt, Ableger von Siedlungen, in denen die meisten ExtremistInnen leben und die auch nach israelischem Recht illegal sind. Trotz der vereinzelten Räumungen werden die meisten Outposts aber toleriert und militärisch geschützt, manche auch direkt gefördert: Sie werden auf Staatskosten mit Strom, Wasser und Bildungseinrichtungen versorgt.
Die israelische Menschenrechtsorganisation B’Tselem kritisiert die Massnahmen als Feigenblatt, um «entschlossenes Handeln vorzutäuschen». Moshe Zuckermann ist noch deutlicher: «Von einem Weckruf kann überhaupt nicht die Rede sein», sagt er. «Natürlich will die Regierung nicht, dass ein Baby verbrennt. Aber diese Regierung hat jüdischen Terrorismus direkt gefördert. Sowohl der Fundamentalismus innerhalb der Siedlerbewegung als auch die Stigmatisierung der Homosexualität – das sind Haltungen, die in der Koalition direkt vertreten sind.» In der Tat sitzt etwa die rechtsextreme Siedlerpartei Jüdisches Heim in der Regierung; die ihr angehörende Justizministerin Ajelet Schaked hatte letztes Jahr als Parlamentsabgeordnete noch zu einem «umfassenden Krieg» gegen das «ganze palästinensische Volk» aufgerufen. Auch zwei ultraorthodoxe Parteien, darunter die Schas-Partei mit einem starken rechtsextremen Flügel, sind wieder Teil der Koalition.
Es ist die rechteste Koalition in der Geschichte Israels. «Durch den Rechtsruck der letzten Jahre werden rassistische Aussagen und Aktivitäten von Extremisten, die früher noch tabu waren, heute einfach hingenommen», sagt Zuckermann.
Reden und schweigen
So verwundert es nicht, dass Regierungschef Netanjahu kurz nach seiner Verurteilung des Anschlags in Duma diesen sogleich politisch ausnutzte: «Judentum und Humanismus gehören zusammen», schrieb er auf seiner Facebook-Seite. «Das ist, was uns von unseren Nachbarn unterscheidet. Wir verurteilen und verfolgen diese Mörder. Sie hingegen benennen öffentliche Plätze nach den Mördern von Kindern.» Und die gelegentlichen gewalttätigen Reaktionen von PalästinenserInnen nutzt er, um sich wieder als Opfer hinstellen zu können. Letzten Donnerstag wurden drei Armeeangehörige bei einem Anschlag im Westjordanland verletzt. «Ich finde es befremdend, dass diejenigen, die den Terror gegen Palästinenser eiligst verurteilten, schweigen, wenn der Terror gegen Juden gerichtet ist», kommentierte Netanjahu wiederum auf Facebook.
Nun ist dies schon höchst zynisch: Gewaltakte aus der seit Jahrzehnten unterdrückten palästinensischen Bevölkerungsgruppe gegen die Besatzungsarmee gleichzusetzen mit Gewaltakten gegen diese machtlose Bevölkerungsgruppe, die eigentlich von der Besatzungsmacht beschützt werden müsste. Und Netanjahu verschweigt, dass es nur eine Woche nach dem Terrorakt in Duma erneut zu einem Brandanschlag auf ein palästinensisches Haus in demselben Dorf kam.
Trotz aller Heuchelei hat die Regierung allerdings grosses Interesse daran, den Terrorismus aus den Outposts zumindest zurückzustutzen. Denn diese sogenannte Hügeljugend will nicht nur die muslimischen NachbarInnen vertreiben oder gar vernichten, sie wendet sich auch gegen den israelischen Staat. Sie akzeptiert nur göttliche, keine menschlichen Gesetze. Trotz weitgehender Tolerierung durch die israelische Politik ist ihr Terror nicht nur gegen die palästinensische Bevölkerung gerichtet, sondern stellt das israelische Staatsmonopol infrage. In Duma wie zuvor anderswo sprayten die Täter das Wort «Preisschild» auf die Hauswand. Der Tod von zwei Menschen sollte auch Israel den Preis von angeblichen Zugeständnissen an die PalästinenserInnen klarmachen. Die Regierung liess kurz vor dem Anschlag zwei nach israelischem Recht illegale Siedlerhäuser abreissen, versprach aber die Erweiterung bestehender Siedlungen um 300 Wohneinheiten.
Derweil geht die staatliche Gewalt gegen die palästinensische Bevölkerung unvermindert weiter. Auch nach dem «Weckruf» werden regelmässig vor allem Jugendliche meist ohne militärische Notwendigkeit erschossen. Gemäss der israelischen Menschenrechtsorganisation Jesch Din bleiben solche völkerrechtlich illegalen Aktionen meist straffrei: In höchstens fünf Prozent dieser Fälle komme es überhaupt zu einer Anklage vor einem Militärgericht.
Dass SoldatInnen nicht nur von Straffreiheit ausgehen können, sondern gar den Befehl erhalten, die Zivilbevölkerung in den besetzten Gebieten systematisch einzuschüchtern, hat etwa die israelische Exsoldatenorganisation Breaking the Silence umfassend dokumentiert. Nun ist die systematische staatliche Einschüchterung der Zivilbevölkerung – etwa durch grundlose nächtliche Hausdurchsuchungen und kurzzeitige Verhaftungen oder die drohende Erschiessung wegen kleiner Vergehen – nach gängiger Definition nichts anderes als Staatsterror. Dieser Staat wendet sich nun gegen «jüdische Terroristen», die er über Jahrzehnte gewähren liess.
«Das ist doch keine Opposition!»
So wie es aussieht, macht die Regierungskoalition praktisch so weiter wie bisher. Und wie kam der «Weckruf» in der israelischen Bevölkerung an? «Hunderttausende hätten auf die Strasse gehen müssen, aber es waren nur wenige Tausend», sagt Zuckermann. «Und nach wenigen Tagen war die Debatte vorbei.» Zudem gebe es keine wirkliche Alternative: «Die sogenannte israelische Linke, die jetzt eine Wende herbeiführen müsste, ist schlichtweg erlahmt», sagt Zuckermann. «Die ehemals mächtige Arbeiterpartei hat unter Jitzhak Herzog höchstens noch das Ziel, Teil einer grossen Koalition zu werden, und passt sich deshalb dem Likud an. Das ist doch keine Opposition!»
Innerhalb des Politikestablishments zeigte sich nur Präsident Rivlin richtig staatsmännisch. Er deutete gar eine staatliche Mitverantwortung für die Taten an. Auf Facebook schrieb Rivlin umgehend, er schäme sich, dass die Täter «aus meinem Volk» stammen. Sogleich sprachen ihm stramme PatriotInnen das Jüdischsein ab, auf sozialen Medien tauchten manipulierte Bilder von ihm in SS-Uniform auf. Und vor allem wird Rivlin unverhohlen mit dem Schicksal von Jitzhak Rabin gedroht. Der frühere Ministerpräsident wurde 1995 von einem jüdischen Extremisten erschossen, weil er den Oslo-Friedensprozess in Gang gesetzt hatte.
Manche BeobachterInnen vergleichen die heutige Stimmung in Israel mit den Zeiten vor zwanzig Jahren, als Rabin ermordet wurde. Auch Moshe Zuckermann: «Tatsächlich muss man befürchten, dass es nun Mordanschläge auf Präsident Rivlin gibt.»