Westjordanland: Leben in der Feuerzone 918

Nr. 25 –

In Masafer Jatta leben Hunderte Palästinenser:innen in militärischem Sperrgebiet. Entgegen internationalem Recht versucht Israels Regierung, die Menschen mit Bulldozern zu vertreiben.

der Weiler al-Markas in der Nähe von der Ortschaft Masafer Jatta am südlichen Zipfel des Westjordanlands
Regelmässig reisst die israelische Armee Häuser ab, die dann wieder aufgebaut werden …

«Sie kriegen mich hier nicht weg, auch wenn sie mich umbringen», sagt Safa An Dschar mit ihrer rauen Stimme und klettert in Gummisandalen einige Felsen herunter. Ihr braun gebranntes Gesicht und ihre Hände sind faltig von der Sonne, die in den Sommermonaten unerbittlich auf die steinige Wüste südlich von Hebron brennt. Den Rest des Körpers schützt die Mittsechzigerin mit einem langen Kleid und einem weissen, um den Kopf gewickelten Tuch. Sie schiebt ein paar schwere Tücher zur Seite und gibt den Eingang zu ihrer Höhle frei.

An Dschars Höhle befindet sich in Masafer Jatta, genauer: in al-Markas, einem Weiler mit Höhlen, Zelten und einfachen Steinbauten am südlichen Zipfel des Westjordanlands.

Das Besondere: Israel hat al-Markas Anfang der achtziger Jahre gemeinsam mit zwölf anderen Weilern zur «Feuerzone 918» erklärt – zu einem militärischen Sperrgebiet, in dem auch geschossen werden kann.

Masafer Jatta mag am Ende der Welt liegen, doch die Dörfer sind Gegenstand gerichtlicher Auseinandersetzungen, die sich über Jahrzehnte hingezogen haben und Anfang Mai zu einem Ergebnis kamen, das international für Aufsehen sorgt.

Matratzen in der Höhle

Das Oberste Gericht in Israel wies eine Klage der israelischen Menschenrechtsorganisation Acri und der Bewohner:innen der Feuerzone als unzulässig zurück. Die Gerichtsverhandlung blieb so aus.

Die Begründung des Gerichts lautete unter anderem, dass keine ausreichenden Beweise dafür vorgelegt worden seien, dass die Bewohner:innen schon in Masafer Jatta gelebt hätten, bevor die Gegend zu militärischem Sperrgebiet erklärt worden sei.

Safa An Dschar vor dem Eingang der Höhle welche ihr als Behausung dient
… Am schlimmsten findet Safa An Dschar aber, dass auch der Schafstall zerstört wurde.

Schira Livne von Acri sagt, diese Begründung sei absurd. Die Anwälte hatten in der Klage unter anderem Luftaufnahmen von den vierziger Jahren bis heute eingereicht, auf denen Weiler, Viehställe und Anbauflächen an denselben Standorten zu erkennen sind.

Die Folge des Urteils: Die Feuerzone 918 darf bestehen bleiben. Die rund 1300 dort lebenden Palästinenser:innen, die bislang unter dem Schutz einer einstweiligen Verfügung standen, können vom israelischen Militär jederzeit evakuiert werden.

In An Dschars Höhle ist es im Sommer angenehm kühl. Fliessendes Wasser gibt es nicht. Eine natürliche Mauer in der Mitte trennt die Feuerstelle auf der einen Seite vom Schlafplatz auf der anderen Seite ab. Im hinteren Teil der Höhle sind ein Dutzend Matratzen gestapelt; in der Nacht holt An Dschar sie für ihre Familie hervor und verteilt sie auf dem Steinboden. Sie hat fünfzehn Kinder. «Meine Enkel zähle ich nicht», sagt sie und lacht. Zehn von ihnen leben mit ihr in der Höhle, die anderen verteilen sich auf die anderen Weiler der Gegend oder leben in der wenige Kilometer entfernten Stadt Jatta.

Im vergangenen Jahr hat sie mit ihrer Familie ein kleines Haus aus grauen Steinen und einem Blechdach neben den Höhleneingang angebaut. Es sei angenehm gewesen, sich zum Schlafen auf zwei Räume verteilen zu können, erzählt sie. Doch das israelische Militär habe das Haus im vergangenen Dezember abgerissen. An Dschars Familie baute es wieder auf, doch dann kamen die Bulldozer Mitte Mai wieder, wenige Tage nach der Verkündung des Urteils des Obersten Gerichts. Evakuiert wurde bisher niemand. Seitdem schläft An Dschars Familie wieder zu zehnt in der Höhle.

Am schlimmsten findet An Dschar, dass das israelische Militär auch ihren Schafstall zerstört hat. Sie hatte ihn gerade fertiggestellt, um die Schafe vor Wölfen zu schützen. Die An Dschars sind wie fast alle in Masafer Jatta Schäfer:innen. In zwei Blechtöpfen gärt neben der Kochstelle Joghurt, den sie in der Stadt verkaufen wollen, in Jatta oder Hebron. Verlieren sie ihre Schafe, verlieren sie ihre Existenzgrundlage.

Meister:innen des Wiederaufbaus

Safa An Dschar ist nach ihrer Heirat mit ihrem Mann nach al-Markas gezogen. Fragt man sie, seit wann der hier lebt, zuckt sie mit den Achseln und winkt mit ihrer Hand ein paarmal über die Schulter. Wen auch immer man hier fragt, dessen Familie hat seit Generationen hier gelebt. Laut den Kläger:innen liegen Zeugnisse von Schäfer:innen in Masafer Jatta aus den Anfangsjahren des 19. Jahrhunderts vor. Zunächst seien sie saisonal gekommen, doch bald hätten sie sich mit ihren Herden dauerhaft dort niedergelassen.

Fragt man Safa An Dschar, ob sie Angst vor einer Evakuierung habe, kommen bei ihr sofort die Erinnerungen an 1999 hoch. In diesem Jahr wurden die Bewohner:innen Masafer Jattas schon einmal evakuiert, und An Dschar sah zum ersten Mal ihre Existenz hier in diesem Wüstenstreifen bedroht. Sie war gerade daran, die Schafmilch zu kochen, erinnert sie sich, als das israelische Militär kam und sie und ihre Familie in einen Lastwagen verlud und auf einem Feld ausserhalb der Feuerzone absetzte. Die Begründung: Sie lebten illegalerweise in militärischem Sperrgebiet.

Sie schlug mit den anderen Evakuierten Zelte in der Nähe der Feuerzone auf; kurz danach reichten einige Bewohner:innen gemeinsam mit Acri ihre erste Petition ein. Eine einstweilige Verfügung erlaubte ihnen, vorerst zurückzukehren und ihr Land zu bewirtschaften – nicht jedoch, Veränderungen an Gebäuden und Häusern vorzunehmen.

Seitdem gehören Hausabrisse zur Tagesordnung. Die Anwohner:innen sind zu Meister:innen des Wiederaufbaus geworden. An Dschars Familie hat nach der Zerstörung des Schafstalls vor einigen Wochen ein Provisorium aus Maschendrahtzaun, Eisenstangen und hellbraunen Zeltplanen für die Tiere gebaut. Auch der Treffpunkt von al-Markas, der ebenfalls kurz nach dem Gerichtsurteil zerstört wurde, steht fast schon wieder: eine niedrige Mauer, an den Ecken Eisenstangen, eine Zeltplane als Dach.

Dort bieten sie den Diplomat:innen, Politiker:innen und Journalist:innen, die derzeit zahlreich in die Wüste zu ihnen kommen, Kaffee an und beantworten ihre Fragen. Begleitet werden viele der Delegationen von den israelischen nichtstaatlichen Organisationen Breaking the Silence und B’Tselem. Oft ist auch Basel Adra dabei, ein 25-jähriger palästinensischer Journalist und Aktivist aus Tuwani, einem Dorf in Masafer Jatta, das ausserhalb der Feuerzone liegt. Er hilft bei Übersetzungen – und dabei, den Weg zu den Weilern zu finden. Ohne Ortskenntnis ist es mitunter schwer, die Strasse zu identifizieren. Denn der Weg, der durch das militärische Sperrgebiet führt, ist nicht befestigt. Die Erschütterungen auf dem steinigen Boden gehen bis ins Mark. Nicht zum ersten Mal sieht Adra auf dem Weg nach al-Markas die Fahrer eines Autos in Windeseile einen platten Reifen wechseln. Kurz darauf wirbeln sie Steine und Staub auf und manövrieren sich mit immer wieder ins Leere drehenden Reifen den Berg hinauf.

«Wir versuchen laufend, die Strasse einzuebnen und sie befahrbar zu machen», erzählt Adra. «Doch das israelische Militär kommt in der Regel schon am nächsten Tag und zerstört die Arbeiten.»

Das an sich beschauliche Masafer Jatta scheint weit entfernt vom pulsierenden Leben in Ramallah und Bethlehem, von Nablus und Dschenin. Doch für Ori Givati von Breaking the Silence ist es wichtig, den grossen Zusammenhang zu sehen, der das Leben der Palästinenser:innen im Westjordanland und vor allem im von Israel kontrollierten «C-Gebiet», das über sechzig Prozent von dessen Fläche umfasst, verbindet: «Mal richtet Israel eine Schiesszone ein, mal ist es eine archäologische Stätte oder eine Sicherheitszone», erklärt Givati. «Und wieder ein anderes Mal greifen Siedler:innen Palästinenser:innen an, und die Armee greift nicht ein.»

In den Augen des ehemaligen israelischen Soldaten, der nun Aktivist im Kampf gegen die Besatzung ist, sind dies Mechanismen desselben Systems. Es habe zum Ziel, die Palästinenser:innen von ihrem Land und aus dem israelisch verwalteten C-Gebiet zu vertreiben.

Gefährlicher Präzedenzfall

Givati manövriert den Jeep einen Berg hinunter und zeigt aus dem Autofenster auf die Berge, auf denen kleine Flecken sichtbar sind – sogenannte Aussenposten, also Siedlungen, die nicht nur nach internationalem, sondern selbst nach israelischem Recht illegal sind, häufig aber nach einer Weile vom Staat legalisiert werden.

«Wieso ist die gesamte Feuerzone von Aussenposten umgeben, die auch nach israelischem Recht nicht legal sind, aber die mit fliessendem Wasser und Strom versorgt werden? Wieso werden die nicht zerstört?»

2012, erklärt Givati weiter, wurde die Feuerzone 918 verkleinert. Er vermutet, dass dieser Schritt erfolgte, weil Siedler:innen einige Aussenposten innerhalb der Feuerzone errichtet hatten – mit der Neueinteilung lagen sie wieder ausserhalb.

Das Urteil des Obersten Gerichts können Acri und die Anwohner:innen in der Feuerzone nicht anfechten. Doch sie wollen erreichen, dass ein breiteres Gremium von Richter:innen den Fall diskutiert. Acri sieht im Urteil einen gefährlichen Präzedenzfall, in dem das lokale Recht über das internationale gestellt wird – dabei besagt die Genfer Konvention, in der das humanitäre Völkerrecht geregelt wird, dass in besetzten Gebieten das internationale Recht Vorrang vor dem militärischen Befehlshaber hat.

«Mir ist nur eins wichtig: dass wir nicht evakuiert werden», sagt Safa An Dschar mit ihrer rauen Stimme. Sie atmet einmal tief durch: «Inschallah.» Dann läuft sie mit ihren Gummisandalen zurück in ihre Höhle.