«Fall Adeline» : Vereinheitlicht den Strafvollzug!
Wut, zuweilen gar Vergeltungsfantasien bestimmen die aktuelle Debatte über den Strafvollzug nach dem Mord an einer Genfer Sozialtherapeutin. Und dieser Furor geht weit über den Stammtisch und den Boulevard hinaus, längst hat er die Politik und die Mehrheit der Medien erreicht. Alle schreien nach einer Verschärfung der Strafgesetzgebung, nach lebenslanger Verwahrung, nach maximaler Sicherheit.
Die Wut ist in Bezug auf den Mord in Genf nachvollziehbar. Das weibliche Opfer begleitete den mutmasslichen Mörder auf dem Weg zur Therapie allein, und der verurteilte Sexualstraftäter trug ein Messer auf sich. Es ist unverständlich, wie es zu einer solchen Situation kommen konnte. Bereits im Mai dieses Jahres ereignete sich in der Westschweiz ein ähnlicher Fall. In beiden Fällen kam es zu fatalen Fehleinschätzungen, die zwingend analysiert werden und Konsequenzen nach sich ziehen müssen.
So ist der laute Ruf nach einer Vereinheitlichung des Strafvollzugs sinnvoll. Bisher sind die Kantone für die Umsetzung des Strafvollzugs verantwortlich, wobei erhebliche Unterschiede in der Umsetzung bestehen. «Es ist wohl kein Zufall, dass die beiden jüngsten schlimmen Gewaltverbrechen in der Westschweiz passiert sind», sagt der emeritierte Strafrechtsprofessor Peter Aebersold. «Dort gelten in Bezug auf Vollzugslockerungen andere Standards als in der Deutschschweiz.»
Aebersold hält eine Bundesregelung im Strafvollzug für unumgänglich, um die bestehenden Unterschiede zu verringern. Und es gibt weitere Gründe, die für eine Bundesregelung sprechen: Verurteilte StraftäterInnen sind oftmals in ausserkantonalen Haftanstalten untergebracht. Das führt zur stossenden Situation, dass zwei wegen eines identischen Delikts Verurteilte zwar im selben Gefängnis sitzen, aber unterschiedliche Vollzugsmassnahmen erfahren. In mehreren Kantonen ist der Strafvollzug zudem auf Verordnungs- und nicht auf Gesetzesebene geregelt, was rechtsstaatlich gesehen bedenklich ist.
Wenn es um den Strafvollzug als zentralen Bestandteil unseres Rechtsstaats geht, ist der momentane Furor hingegen bedenklich. Sein Fundament ist die Erzählung, dass Gewaltverbrecher mit Samthandschuhen angefasst würden und der Strafvollzug viel zu lasch sei. Doch bei genauer Betrachtung erweist sich die sogenannte Kuscheljustiz als Mythos. Die Situation ist keineswegs vergleichbar mit jener zu Beginn der neunziger Jahre, als etwa die «Urlaubsgesuche nicht sorgfältig genug geprüft wurden und vorwiegend Insider die Gefährlichkeit von Gefangenen beurteilten», wie Aebersold sagt. Aus dem Mord am Zollikerberg im Oktober 1993 seien Lehren gezogen worden – allerdings vor allem in der Deutschschweiz. «Standen früher im Rahmen der Resozialisierung berufliche Bildung und soziales Training im Vordergrund, setzt man sich heute intensiv mit dem Delikt auseinander.» Diese beiden Bereiche dürften nicht gegeneinander ausgespielt werden, so Aebersold, sie seien gleichermassen wichtig für den Resozialisierungsprozess.
Der Mythos zeigt sich insbesondere beim Thema «Verwahrung». 2011 lag die Zahl der Verwahrten bei 157, hinzu kamen weitere 561 Menschen, die über eine stationäre therapeutische Massnahme («kleine Verwahrung») ebenfalls weggesperrt waren. In den letzten Jahren sind jährlich weit über hundert Menschen neu weggesperrt worden. Diese Entwicklung ist eine unmittelbare Folge der Psychiatrisierung des Strafvollzugs.
«Die Frage heisst heute nicht mehr, ob jemand schuldig ist und ein Unrecht begangen hat. Im Zentrum steht die einem Gefangenen zugeschriebene Gefährlichkeit», sagt der Zürcher Strafrechtler Matthias Brunner. Das führe zu einem Präventivstrafrecht: «Menschen werden nicht mehr weggesperrt wegen eines Delikts, das sie begangen haben, sondern wegen einer möglichen Tat, die vielleicht irgendwo in der Zukunft liegt.» Weil der öffentliche Druck derart gross sei, getrauten sich die Richterinnen und Psychiater kaum noch, Menschen aus der Verwahrung zu entlassen.
Am Ende steht die Frage, wie weit unsere Gesellschaft bereit ist, für ihr Sicherheitsbedürfnis Freiheits- und Grundrechte aufzugeben. Der Furor ist für diese Güterabwägung ein schlechter Ratgeber.