GeisteswissenschaftlerInnen: «In deren Augen kann ich nichts»

Nr. 38 –

Intellektuelle Begeisterung steht oft am Anfang eines geisteswissenschaftlichen Studiums. Unter den Arbeitsbedingungen an den Universitäten und in der Wirtschaft ist sie kaum aufrechtzuerhalten.

Illustration: Marcel Bamert

Seit einiger Zeit führen wir Interviews mit GeisteswissenschaftlerInnen aus Deutschland und Österreich. Die Befragten sind zwischen 30 und 45 Jahre alt und durchweg promoviert. Wir wollen wissen, aus welchen biografischen Gründen sie Geisteswissenschaften studierten, wie es ihnen dabei erging, vor allem aber, was aus den erworbenen Kenntnissen und der ehemaligen Motivation im weiteren Berufsleben wird.

Unser Ziel ist es, mit narrativen Interviews exemplarisch die Bedingungen zu dokumentieren, unter denen geisteswissenschaftliches Arbeiten stattfindet, seit die Universität in den letzten Jahren immer stärker im Sinn marktwirtschaftlicher Prämissen umstrukturiert wurde. Für diesen Zweck eignet sich die von uns befragte Altersklasse besonders, denn die Veränderungen des akademischen Feldes haben diese WissenschaftlerInnen genau in der schwierigsten Karrierephase getroffen: Die Promotion qualifiziert sie zwar für den akademischen Betrieb, aber sie haben noch nicht in ihm Fuss gefasst.

Wir glauben, dass die Erfahrungen unserer InterviewpartnerInnen nicht nur spezifisch für das akademische Feld oder gar die vermeintlich «weichen» Geisteswissenschaften sind. Unter den Bedingungen eines Kapitalismus, der zunehmend kulturelle Leistungen vermarktet, spiegeln sie vielmehr das generelle Paradigma einer Arbeitskultur. Die Gewalt, die dadurch sowohl der Arbeit als auch den Individuen angetan wird, tritt im Fall der Geisteswissenschaften allerdings besonders zutage: Sie werden nach Kriterien einer unmittelbaren ökonomischen Verwertbarkeit bemessen, der sich ihre Inhalte ursprünglich entziehen.

Bildungsbegehren

So verschieden die familiären Hintergründe und Ausgangslagen der Interviewten auch sind, einige Motive tauchen in fast allen Gesprächen auf. Das erste könnte man «Bildungsbegehren» nennen. Geisteswissenschaften werden studiert aus Lust an bestimmten Formen des Denkens. Ob ein Heftchen über östliche Weisheit im Berliner Wohnzimmerregal oder ein selbst gekaufter Hermann Hesse im österreichischen Waldviertel, ob Abgrenzung gegen das Elternhaus oder Fortsetzung der von dort vorgegebenen Neigungen; meistens können die Befragten genau angeben, was ihr Interesse an geisteswissenschaftlichen Fragen geweckt hat und ausmacht.

Eine Interviewpartnerin, Philosophin, bekam zur Schulzeit Johann Gottlieb Fichtes Wissenschaftslehre in die Finger: «Ich habe nichts verstanden. Und es war grossartig. Ich habe selten ein so existenzielles Erlebnis gehabt wie mit diesem ‹Ich› und ‹Nicht-Ich›, das da auf einen einstürzt.» Wer so fühlt, wird Geisteswissenschaften nicht als Hobby betreiben wollen. Das Bedürfnis, sich ausschliesslich und durchgängig darauf einzulassen, führt zum Studium.

Die Befragten hatten kaum Probleme im Studium, von Selbstzweifeln oder Gedanken an Abbruch oder Fächerwechsel berichten sie selten. Schwierig wurde es erst, als sie das vorläufige Ende des akademisch vorgegebenen Wegs erreichten. Dieses Motiv könnte man «Gelingen ist Scheitern» nennen. Denn in allen Interviews wird der Punkt des höchsten akademischen Erfolgs zugleich als Krise beschrieben: «Den Gedanken, ich habe jetzt mein Leben verpfuscht, den hatte ich, als ich die Habilitation abgeschlossen hatte», sagt eine unserer Interviewpartnerinnen.

Ein anderer hatte nach der Dissertation starke Depressionen und musste medikamentös behandelt werden. «Der Tag meiner Promotionsfeier, das war der erste Tag, an dem ich eine Krise hatte», gibt eine weitere Interviewpartnerin an. Nicht ungewöhnlich, könnte man denken, das ist das typische «Loch», in das Menschen nach einer grossen Anstrengung fallen. Im Fall der Geisteswissenschaften heisst es aber mehr, nämlich, dass akademischer Erfolg auch als ein Zeichen gesellschaftlichen Scheiterns gelesen werden kann.

Unverwertbar

Fast alle Befragten machten die Erfahrung der Nutzlosigkeit der Geistesarbeit für das praktische Leben. Je länger sie in der Wissenschaft blieben, desto schwieriger wurde es, auch nur Aushilfsjobs zu bekommen. Eine suchte, als ihr Stipendium auslief, aber die Promotion noch nicht beendet war, nach einer Tätigkeit in der Altenpflege: «Die haben dankend abgelehnt, die haben einen Lachkrampf gekriegt, es war kein Durchkommen. Die haben mir signalisiert: ‹Wir können Leute wie Sie nicht brauchen.› Null qualifiziert, ich kann nichts in deren Augen.»

Aber auch der umgekehrte Fall gilt. Ein Interviewpartner hatte vor dem Studium eine fertige Berufsausbildung absolviert. Im Lauf seiner Beschäftigung mit Philosophie erschien es ihm immer unmöglicher, in seinen alten Beruf zurückzukehren: «Ein normaler Job wird dich wahrscheinlich irgendwann fertigmachen», sagte seine Frau zu ihm.

Dennoch muss eine Lohnarbeit gefunden werden, und oft gelingt das nur in harscher Diskrepanz zur eigenen Qualifikation. Eine Kunsthistorikerin arbeitet heute, nach der Promotion, als persönliche Assistentin im Kulturbereich, also als administrative Zudienerin: «Es war jetzt schon eineinhalb Jahre lang irgendwie traurig, ja. Die Traurigkeit, weil ich intellektuell nicht gefordert war, musste ich erst verkraften lernen», sagt sie.

Die Universität war lange Zeit der Ort, an dem man, eine gewisse intellektuelle Passform vorausgesetzt, geisteswissenschaftlich arbeiten und doch ökonomisch abgesichert sein konnte. Seit den achtziger Jahren bröckelt dieser Lebensentwurf. Mittlerweile ist «die Autonomie des wissenschaftlichen Feldes zugunsten privatwirtschaftlicher Imperative geopfert worden», wie Kyrylo Tkachenko im Buch «Bologna-Bestiarium» (2013) des Münchner Herausgeberkollektivs Unbedingte Universitäten schreibt.

Das bedeutet, dass die Geisteswissenschaften den gesellschaftlichen Bereich verloren haben, in dem sie sich über ihre Inhalte legitimieren können. Auch sie müssen sich nach dem Gesetz des Wettbewerbs richten. So kommt es, dass die frisch ausgebildeten GeisteswissenschaftlerInnen leerzulaufen beginnen. Worum es ihnen inhaltlich geht, ist entwertet und ortlos. Was zählt, ist nicht, geistige Zusammenhänge zu erschliessen, sondern ein auf blosse Aussenwirkung abgerichtetes Tätigsein, das mit rein quantitativen Evaluationssystemen bewertet wird. Mittlerweile ist es gebräuchlich, die Summe eingeworbener Forschungsgelder im Curriculum Vitae anzugeben, als sei der Lebenslauf eine Handelsbilanz.

Gunst des Schicksals

Typisch für alle Befragten ist das Gefühl, das eigene Schicksal nicht in der Hand zu haben. Die wissenschaftliche Qualifikation ist eine notwendige Basis, aber ob es eine Chance gibt, das eigene Wissen anzuwenden, bleibt unklar: «Ich kann nur hoffen, dass es irgendwann wieder eine glückliche Fügung gibt für irgendwas.» Fast alle empfinden ihr Leben als Weiterhangeln und als Roulette. «Von Können, Begabung, solidem Handwerk braucht man gar nicht mehr zu reden … Das ist ja leider kein Entscheidungskriterium mehr für eine Anstellung. Das sind Zufälle.»

Eine unserer Befragten bewegt sich seit Jahren von einer befristeten Stelle zur anderen. Sie ist die typische Arbeitskraftunternehmerin, die ihr Wissen auf dem Bildungsmarkt anbietet, und sie beginnt, sich in dieser Lebensform einzurichten. Ganz im Sinn der ökonomischen Gesetzmässigkeit ist die Krise für sie zum eigentlichen Motor geworden. «Letztlich geht es immer so weiter, das ist ja das Schlimme», sagt sie.

Das Projekt «Bestandsaufnahmen aus der Provinz des Lebens» wurde mit dem österreichischen Theodor-Körner-Preis 2013 ausgezeichnet. Geplant ist die Publikation der Interviews in leicht literarisierter Form.