Geisteswissenschaften: «Und was willst du später einmal damit machen?»

Nr. 6 –

Über die seltsame Logik von Angebot und Nachfrage der Geisteswissenschaften. Und über deren Verwertbarkeit, die zwar die geschundene Seele entlastet, aber auch das Denken verkleistert.

Gegen Ende der Schulzeit, es war kurz vor dem Abitur, gab man mir einen Termin bei der Berufsberatung im Arbeitsamt eines deutschen Städtchens. Offenbar wollte die Schulleitung uns auf das Leben vorbereiten, und weil ich, wie so viele junge Menschen, die verschiedensten Passionen hatte, fragte ich den Berufsberater ins Blaue hinein, was man eigentlich mit dem Studium der Psychologie anfangen könne. «Psychologen gibt es schon zu viele», lautete die Antwort mit nüchternem Blick auf die Statistiken. «Die einzigen freien Stellen, die es da noch gibt, sind in der Werbepsychologie.» – Reklame! Nichts hätte mir fernergelegen. Wenn das so ist, dachte ich, dann kannst du auch gleich auf Perspektiven pfeifen und das studieren, was dich am meisten interessiert.

So wurde ich von einem tumben Berufsberater in die Arme der besonders brotlosen Künste getrieben und wählte die Fächerkombination Philosophie/Germanistik. Zur Strafe hat man mich das ganze Studienleben lang und darüber hinaus mit der elenden Frage traktiert: «Und was willst du damit später mal machen?»

Bei der Studien- und Berufswahl gibt es offenbar zwei grundsätzliche Charaktertypen. Die einen wollen Geld verdienen, die anderen nicht, zumindest nicht in erster Linie. Nur die Letzteren wählen die Geisteswissenschaften, und das heisst fast immer eine Option gegen den Markt und die Marktförmigkeit des sich anzueignenden Wissens. Gerade das Fach Philosophie gilt als Paradebeispiel einer nutzlosen Kunst. Als eine, um mit Georg Wilhelm Friedrich Hegel zu sprechen, «spekulative Wissenschaft» verriete sie sich selbst, wenn sie auf Praktikabilität, Anwendbarkeit oder gar Verwertbarkeit zielte. Philosophie wird, so habe ich es erfahren, umso sinnvoller, je weniger man weiss, wozu man sie studiert.

Brotlose Kunst?

Die Verweigerung gegen Verwertung ist der eine sozusagen innerliche Grund der geisteswissenschaftlichen Brotlosigkeit. Es gibt aber, so glaube ich, noch einen anderen, und an ihn richtet sich die eigentliche Frage: Warum sind Wissenschaften, allen voran Geisteswissenschaften, denn nicht marktfähig? Warum lassen sich ihre beziehungsweise die auf ihnen beruhenden Leistungen (selbst wissenschaftsintern) so schlecht verkaufen? Die Frage klingt naiv, und die erste Antwort, die sofort parat ist, scheint trivial und richtig: «It’s the economy, stupid!» Niemand braucht die Produkte der Geisteswissenschaften wirklich. Sie sind – wie die meisten anspruchsvolleren kulturellen Dinge – eine schöne Arabeske, aber für den Massenmarkt nicht tauglich.

Demnach wären die Geisteswissenschaften also nicht marktfähig, weil sie eben nicht marktfähig sind. Ist das wirklich so tautologisch und der Markt so simpel? Mir als Nichtökonomin will etwas daran nicht einleuchten.

Es gibt, im Verhältnis zu den Juristinnen, Medizinern und Wirtschaftswissenschaftlerinnen immer noch weniger Geisteswissenschaftler. Wir sind unter den AkademikerInnen zwar eine grosse, aber bei weitem nicht die grösste Masse, was unseren Preis aber nicht in die Höhe treibt. Im Gegenteil kann unser Wert durch vermehrtes Angebot sehr wohl herabgesetzt werden. Also noch einmal die Frage: Warum erzielen Geisteswissenschaften und ihre hochkomplexen, arbeitsintensiven Gegenstände (Literatur, Musik, Kunst, Denken/Theorie, Sprache, Geschichte et cetera) keinen angemessenen Preis?

Drei Gründe könnte man hierfür nennen: eine Willkür gesellschaftlicher Wertsetzung, die nicht einfache Konsumierbarkeit und die «Immaterialität» der Produkte und Inhalte der Geisteswissenschaften.

Die Willkür

Das Argument, es gebe nicht genügend Nachfrage/Anwendungsmöglichkeiten für Geisteswissenschaften, weshalb mit ihnen eben auch keine verkaufbaren Brötchen zu backen seien, ist – bedingt – eine Augenwischerei. Gerade die derzeit in der Ökonomie vorherrschende subjektive Wertlehre, also die Auffassung, der Wert eines Guts bestimme sich vor allem durch das, was die Leute haben wollten, legt nahe, dass die Dinge auch anders sein könnten.

Die Nachfrage wechselt und entwickelt sich nicht unbedingt «natürlich». Der Wert und die Begehrtheit einer Ware oder Dienstleistung hängen heute vor allem an der Marke, am Status, und das gilt nicht nur auf dem öffentlichen Markt, sondern auch innerhalb der Wissenschaften. Die Gehaltstabellen für Professuren in den USA zeigen das Wertsystem recht unverblümt. Die höchstdotierten Stellen liegen bei den Rechtswissenschaften, in Wirtschaft/Management/Marketing und den Ingenieurswissenschaften (in dieser Reihenfolge), die niedrigsten bei Theologie, englischer Literatur und Geschichte. Eine Juraprofessur ist in den USA 138 800 US-Dollar jährlich wert, eine Business-Professur 116 000, während die Theologin 73 900 Dollar nach Hause bringt und der Literaturwissenschaftler 82 000.

Die Konsumierbarkeit

Doch nicht alles ist relativ, die Willkür hat ihren Grund. Dass es Geisteswissenschaften und ihre Inhalte schwer haben auf dem Markt, liegt auch daran, dass sie schwer sind. Sie kosten nicht nur die Produzentinnen Arbeit, sondern auch die Rezipienten, zumindest dort, wo geisteswissenschaftliche Inhalte sind, was sie sein sollen, nämlich «anspruchsvoll». Ein kluges Buch muss eben nicht nur gekauft, sondern auch noch gelesen und verstanden werden. Das kostet Zeit und ist oft umso aufwendiger, je gehaltvoller das Buch ist. Im Grunde verlangen die Produkte der Geisteswissenschaften von den KonsumentInnen, sich zu bilden, das heisst, sie sich anzuverwandeln und selber kleine GeisteswissenschaftlerInnen zu werden.

Dieser Anspruch sei – so sagt man – nicht massen-, also auch nicht markttauglich. Das Publikum wolle unterhalten werden, und genau da setzt die schon in Theodor W. Adornos und Max Horkheimers «Dialektik der Aufklärung» (1947) beschimpfte «Kulturindustrie» an, die sich heute zu einer Kulturvermarktung allererster Güte aufgebläht hat. Verordneter Stumpfsinn der Mörike-Wanderwege. Ich bin mir nicht so sicher, ob sich die Massen nicht doch ein bisschen mehr bilden wollen, ob man sie nicht unterschätzt. Man müsste Zeit geben und andere Angebote machen.

Die Immaterialität

Dass Menschen lieber für seltene Diamanten hohe Summen aufwenden als für rare Philosophie, liegt natürlich auch an der Flüchtigkeit, der Immaterialität geistiger Produkte. Sie lassen sich nur bedingt in Privatbesitz überführen. Ein Bild von Jackson Pollock kann ich als Wertanlage kaufen und im Wohnzimmer an die Wand hängen, Immanuel Kants «Kritik der Urteilskraft» nicht.

Geistige, damit geisteswissenschaftliche Tätigkeit entzieht sich in gewisser Weise der Warenform. Sie kann sich entweder als Dienstleistung verkaufen, oder sie findet in gedruckter Form ihren materialisierten Ausdruck, was meist nicht einträglich ist. Es lassen sich natürlich auch die mit dem Studium erworbenen «skills» beziehungsweise die eigene Person als Marke zu Geld machen. Mehr geht nicht.

Das «Eigentliche» der Wissenschaften, die Inhalte und der Geist, der sie bewegt, sind auf dem Markt nicht unterzubringen, weswegen sie zu Recht unter dem Titel «öffentliche Güter» rangieren, die eben auch öffentlich finanziert werden müssten. Hier beginnt dann das bekannte Hickhack um Förderungen und Subventionen et cetera.

In der Wissensgesellschaft läuft Wertschöpfung eher über Kopf- als über Handarbeit, was die Produktions- und sogar die Eigentumsverhältnisse revolutionieren könnte, wenn man es denn richtig anpackte. Manche AutorInnen sehen viel utopisches Potenzial im «kognitiven Kapitalismus» und seinen «immateriellen Gütern». Dennoch ist mit kapitalisierbarem Wissen nicht das gemeint, was wir GeisteswissenschaftlerInnen uns unter Denken vorstellen. Die unglaublichen Marktpreise, die «immaterielle Produkte», gerade im IT-Bereich, erzielen, werden den Produkten geisteswissenschaftlicher Arbeit niemals offenstehen. Richtig besehen liegt darin natürlich die grosse Chance.

Ging es nicht einmal um Freiheit?

Sich nicht verkaufen wollen und es doch müssen; sich nicht verkaufen können und es vielleicht doch ersehnen – in der alten geisteswissenschaftlichen Ambivalenz dem Markt gegenüber steckte immer eine Wut, eine Traurigkeit, eine Ohnmacht und natürlich auch ein gerüttelt Mass an Arroganz. Man wollte eben eine andere Welt, einen anderen Markt oder besser noch: gar keinen.

Der Konflikt, so scheint mir, wird unter gegenwärtigen Bedingungen schwächer, er diffundiert, und das ist nicht unbedingt ein gutes Zeichen. Angesichts flexibilisierter Lebensläufe und Karrieren ist die geisteswissenschaftliche Prekarität nichts Besonderes mehr, sondern als «Künstlerexistenz» eher paradigmatisch für gegenwärtige Arbeitsbedingungen generell. Daher ist die Wahl eines geisteswissenschaftlichen Studienfaches auch nicht mehr eine «opting out»-Strategie, zumal die Disziplinen sich, inklusive Kultur- und Medienwissenschaften, derart auffächern und gerade gefragten Anwendbarkeiten anschmiegen, auf dass sich sicher noch ein Nutzen ergebe.

Die Diffundierung (es geht allen so) und die Ausweitung der Anwendungsbereiche für Geisteswissenschaften im Kulturkapitalismus entlastet die geschundene Seele und verkleistert zugleich das Denken. Verschleiert ist, dass geisteswissenschaftlich fundierte Arbeit im Verhältnis immer noch miserabel bezahlt bleibt und oft um den Preis der Selbstaufgabe geschieht. Ging es nicht einmal um Freiheit, um Denken, um sinnvolles Tätigsein? Wir spüren gar nicht mehr, wie pragmatisch wir geworden sind. Hoffnungslos veraltet erscheint das adornitische Pathos der Weltwut, verschwunden ist der elende, stechende, stolze Schmerz der Unverwertbarkeit.

«Philosophie, und was kann man damit machen?» Die Frage hört dennoch ein Leben lang nicht auf. Erst kürzlich habe ich sie wieder beantwortet, als sich ein Krankenpfleger – während er mich in den Operationssaal schob – freundlich nach der Art meines Doktortitels erkundigte. Das alte Spiel. «Ich arbeite als Journalistin», sagte ich beflissen, bevor die Narkose einsetzte.

Der Text ist die gekürzte und leicht überarbeitete Fassung eines Essays aus «Bestandsaufnahme Kopfarbeit. Gespräche mit Geisteswissenschaftler/innen der mittleren Generation» von Andrea Roedig und Sandra Lehmann. Der Band erscheint diesen Monat im Klever-Verlag, Wien.