«Europas radikale Rechte»: Scheinbar moderat statt laut und hässlich

Nr. 44 –

In spannenden Reportagen porträtieren Martin Langebach und Andreas Speit rechte Gruppen in Europa. Doch die Analyse kommt dabei zu kurz.

Der Soziologe Martin Langebach und der Journalist Andreas Speit haben einen Reportagenband über rechte Parteien und Bewegungen in Europa geschrieben. Aus vierzehn europäischen Ländern berichten die beiden deutschen Autoren von den AkteurInnen und Auftrittsorten der «radikalen Rechten». Langebach und Speit hören zu, sehen hin, beschreiben und ordnen diese Beobachtungen jeweils in einen länderspezifischen historischen Kontext ein.

Aufbau von Jugendzentren

Ein besonders gelungenes Reportagebeispiel ist Italien. In der Nähe des Olympiastadions von Rom, eines Relikts faschistischer Architektur, veranstaltete die Organisation Casapound (CP) im vergangenen Herbst ein internationales Treffen in einer Bauruine. Als Gastgeber trat Gianluca Iannone auf, der 39-jährige Vorsitzende von CP. Der ehemalige Sänger einer Rechtsrockband hat mit seiner Organisation innerhalb des letzten Jahrzehnts ein Konzept entwickelt, auf das mittlerweile viele andere rechte Bewegungen aufmerksam geworden sind. Die Geburtsstunde von CP war eine Hausbesetzung in Rom vor über zehn Jahren. Bezahlbarer Wohnraum für das «italienische Volk» ist bis heute ihre Kernforderung. Zum Konzept gehört neben den besetzten Häusern, die in der Folge zu Jugendzentren mit Kulturangeboten ausgebaut werden, auch ein Sozialdarlehen.

Die sozialpolitische, antikapitalistische Positionierung hat CP, die sich offen als faschistisch bezeichnet, landesweit bekannt und vor allem bei Jugendlichen populär gemacht. Die Organisation unterhält – gemäss eigenen Angaben – 72 Büros in ganz Italien. Momentan laufen Bestrebungen, CP auch als politische Partei zu etablieren; bisher ohne durchschlagenden Erfolg.

Feindbild Multikultur

Das vielleicht wichtigste Kapitel ist jenes über Frankreich und den Front National (FN). An diesem Beispiel wird nämlich ersichtlich, dass ein programmatischer Wandel eingesetzt hat, der für die demokratischen Gesellschaften gefährlich werden kann. Fast vierzig Jahre lang prägte Jean-Marie Le Pen den FN. Die Partei war unter seiner Leitung aggressiv und offen rassistisch, laut und hässlich und damit für viele unwählbar. Im Januar 2011 löste ihn jedoch seine Tochter Marine Le Pen an der Spitze der Partei ab. Seither hat ein Modernisierungsprozess eingesetzt, die Partei baut bewusst auf ein moderates Image. Die Betonung liegt auf sozial- und wirtschaftspolitischen Themen. Doch das ideologische Fundament bleibt klar ultranationalistisch, und der Fremdenhass ist weiterhin die zentrale Triebfeder.

Diese Modernisierung muss auch als Kulturrevolution begriffen werden. «Statt von ‹Rasse› wird von ‹Kultur› gesprochen», schreiben Langebach und Speit. Ideologischer Vordenker ist der französische Publizist Alain de Benoist. Er schreibt: «Die menschliche Rasse ist (…) Träger einer Geschichte, einer Kultur, eines Schicksals.» Diese Kulturen gelte es zu bewahren und zu schützen. Das Feindbild ist «Europas Multikultur». Ein anderer Begriff, der zunehmende Verwendung findet, ist «Identität» – auch er wird als Gegenstück zum Fremden und zur Multikultur gebraucht. An die Stelle von tumben RassistInnen treten gemässigtere AkteurInnen, die ganz bewusst auf soziale und kulturelle Aktivitäten setzen.

Es gibt aber auch Kapitel, die weniger aufschlussreich sind, weil keine exemplarischen Entwicklungen zum Ausdruck kommen. Oder weil die Organisationen und AkteurInnen politisch und gesellschaftlich kaum relevant sind. Dazu zählen die Reportagen aus Holland und aus der Schweiz, wo eine 1.-August-Feier auf dem Rütli der Ausgangspunkt ist, um die hiesige rechtsradikale Szene mit der Partei National Orientierter Schweizer (Pnos) als wichtigster Organisation zu beschreiben.

Problematischer Klammerbegriff

An diesem Punkt setzt auch die Kritik am spannenden und gut geschriebenen Werk von Langebach und Speit an. Die Autoren benutzen den Begriff «radikale Rechte» als Klammer. Kernmerkmal dieser Gruppe sei eine «ultranationalistische Vorstellung», die oft auch antidemokratisch sei. Der Begriff ist gleichzeitig zu eng und zu offen. Gerade in Holland und der Schweiz sind (oder waren) mit der Freiheitspartei (Geert Wilders) und der SVP zwei rechte Parteien sehr erfolgreich, die nicht explizit antidemokratisch sind. Statt den Fokus auf sie zu richten, werden Splittergruppen porträtiert. Zu eng ist der Begriff, weil er eine Einigkeit suggeriert, die (noch?) nicht vorhanden ist. Die Differenzen zwischen den einzelnen Parteien und Organisationen sind nach wie vor da, auch wenn sich besonders in Westeuropa zunehmend der Antiislamismus ausbreitet. In Mittelosteuropa spielen der Antiziganismus und der Antisemitismus (stark ausgeprägt vor allem in Ungarn, wo die faschistische Partei Jobbik sogar offen auf die Türkei und den Iran zugeht) eine wichtige Rolle. Weitere Unterscheidungsmerkmale liefern die Homophobie oder der Sexismus.

Das macht den Begriff «radikale Rechte» für die Analyse problematisch. Martin Langebach und Andreas Speit haben sich aber bewusst auf Reportagen konzentriert, und in dieser Hinsicht ist ihr Werk ein Gewinn – mit bitterer Erkenntnis, denn ihre Texte zeigen: In ganz Europa haben sich radikale rechte Parteien und Organisationen herausgebildet, und ihre Themen sind die Themen der gesellschaftlichen Mitte geworden.

Martin Langebach und Andreas Speit: Europas radikale Rechte. Orell Füssli Verlag. Zürich 2013. 287 Seiten. Fr. 29.90