Lou Reed (1942–2013): Glöckchen im seidenen Untergrund

Nr. 44 –

Ein Kollektiv trauert (mehrheitlich). Der Tod von Lou Reed hat auch die WOZ nicht unbeeindruckt gelassen. Ein paar tränenumflorte Stimmen.

Vierzig Jahre lang hat Lou Reed die Fotoredaktorin begleitet, «seine Poesie und Melancholie. Und jetzt ist er verreist, schon wieder ein Verlust. Seine Musik bleibt, zum Glück. Und die Erinnerung an ein unerwartetes Lachen während eines Livekonzerts: Aber wollen wir ihn wirklich so erleben?, habe ich dabei gedacht.»

Aus Jerusalem ertönt die Stimme des Auslandredaktors: «‹Metal Machine Music›, 1975: ein Doppelalbum aus nichts mehr als Gitarrenverstärkerfeedbackgeräuschen; too much, too little für die Zeit. Haus der Berliner Festspiele, 2002: Das Ensemble Zeitkratzer interpretiert die 64 Minuten Lärm mit klassischen Instrumenten; Lou Reed mittendrin in der Neuen Musik – ohne Worte, ohne Stimme.»

Zwischen den Ressorts Schweiz und Kultur wird der «Perfect Day» gefunden: «Es gibt Lieder, bei denen ich das Gefühl habe, als ob ihre Melodie schon immer da gewesen sei, jederzeit da ist, nur manchmal so leise, dass ich sie nicht höre. So ein Lied ist ‹Perfect Day›. Schon aus den ersten fünf Tönen klingt eine hellwache Müdigkeit, seltsam tröstend in ihrer fatalen Vergeblichkeit. Eine Stimme, die unheimlich intim ist und zugleich heillos distanziert.» Für den Wirtschaftsredaktor hingegen wird Reed immer einen der bedeutendsten Songs in der Geschichte des Hip-Hop bedeuten: «Can I Kick It» (1990) von A Tribe Called Quest, in dem «Walk on the Wild Side» gesampelt wird.

Der Aushilfskulturredaktor erinnert sich an ein Konzert in Luzern, toll, aber nicht ganz überwältigend (was wäre das schon), und dann hat er eine Schwäche für das Album «New York» (1989), obwohl das bei PuristInnen wegen seines Erfolgs etwas scheel angesehen wird. Es gibt auch funktionalistischere Zugänge: Der Medienredaktor findet, Reeds Musik sei gut zum Autofahren. Der (jüngere) Praktikant im Ressort Schweiz erkennt: «Wenn ich die Bands meiner Generation höre und aus Neugier nach deren Wurzeln grabe, komme ich irgendwann in den Untergrund und damit auch zu ihm.»

Schächte und Verschläge

Lou Reed, meint der Verlagspraktikant aus Argentinien, war ein Intellektueller, der verblüffend gnadenlose Poesie schrieb. Die unterlegte er mal mit simplen Melodien, mal mit avantgardistischen Elementen. Und manchmal mit beidem. «So ein Mist, ist Lou nicht mehr da.» Für die vielfach bewegte Schweizredaktorin waren «in der schrecklichen Zeit nach der Matura Velvet Underground der perfekte Soundtrack: verloren, aber stolz drauf – der arrogante Triumph in Lou Reeds Stimme, wenn er ‹Heroin› oder ‹Beginning to See the Light› singt! Alles in allem keine gute Erinnerung, darum kann ich Velvet Underground heute fast nicht mehr hören, leider.»

Für die Wissensredaktorin passt die Tatsache, dass er nicht wirklich singen konnte, gut zum Referenzpunkt all seiner Songs: zur schmuddeligen Grossstadt mit ihren dampfenden U-Bahn-Schächten und den Kartonverschlägen entlang der Midtown-Avenues, die sie Mitte der achtziger Jahre als Teenager durchstreifte. «Lou Reed ist für mich der New York City Man. Er verlieh den Ausgestossenen dieses Molochs mit seinem poetisch-apokalyptischen Sprechgesang eine Stimme. Ende der achtziger Jahre war nichts mehr übrig von den hymnischen Gesängen aus den Velvet-Underground-Jahren. New York ‹is sinking like a rock, into the filthy Hudson› – der ‹statue of bigotry› ists egal. ‹There’s a rampaging rage rising up like a plague of bloody vials washing up on the beach›: ‹That’s New York’s problem, not mine!› Aber loslassen und aufs Land ziehen konnte Lou Reed auch nicht. ‹New York City, I love you›, sang er Mitte der neunziger Jahre in ‹NYC Man›, die sanft angefügte Drohung hat er jetzt wahr gemacht: ‹Blink your eyes and I’ll be gone.›»

Drogen! Sex!

Noch eine Stimme aus dem Ressort Schweiz: «Lou Reed starb am Sonntagnachmittag, was eigentlich ein Morgen ist. Einen Letzten nahm er noch mit, ein letztes Mal liess er sich einholen: von all den verschwendeten Jahren, den überquerten Strassen, überhaupt der Welt, die dann hinter einem her ist, weil wir ihr am Sonntagmorgen enteilen. Reed ist tot, der Sonntagmorgen muss weiterleben, schliesslich wollen wir weiter die Glöckchen hören in seinem seidenen Untergrund, während das Eigelb vertrocknet, der Milchschaum zusammensackt und wir nochmals in die Daunen fallen, auf dem Weg zur nächsten Verschwendung.»

Das Schlusswort hat der Abschlussredaktor: «Die Velvet-Underground-Live-Doppel-LP, auf der sich ‹Rock ’n’ Roll› befindet, war viel geliebt in der Zeit, als Rock ’n’ Roll mein Leben rettete. Oder mir zumindest klarmachte, dass das Leben meiner Eltern nicht mein Leben sein kann. Rock war verheissungsvoll, Velvet Underground äusserst verheissungsvoll: Drogen! Sex! Meine Eltern konnten kein Englisch. Lou und ich schon. Irgendwann sagte mir Rock dann nicht mehr viel, alles war schon mal da gewesen, nichts schien mehr echt. Ich fand den Jazz, zunächst je freier und chaotischer, je besser. Heute höre ich vor allem älteren Jazz und Rhythm ’n’ Blues. Reed hat oft gesagt, wie sehr er Doo Wop liebte, diesen unschuldig reinen, romantischen Harmoniegesang, der in den fünfziger Jahren von den Strassenecken der Schwarzen- und Italienerviertel New Yorks widerhallte. Ob diese Musik den abgeklärten Reed, der immer klang, als hätte er alles schon gesehen, ähnlich weich werden liess, wie er mich schmelzen lässt? Auch in späteren Jahren hatten Reeds Texte und sein Vortrag noch immer jede Menge Kraft. Reed war eindeutig ein Dichter. Im Jahr 2000 habe ich ihn dann live gesehen, in Zürich. Ein gepflegtes Konzert: Beim Verlassen des Sitzplatzes – mal einen näheren Blick auf den Star werfen – wurde man streng zurechtgewiesen. Das war in Ordnung, man stört einen Dichter nicht.»