Medientagebuch: Zürcher Zeitreise
Das NZZ-Archiv wurde für die AbonnentInnen geöffnet. Ein wunderbares Rechercheinstrument.
Letzte Woche hat die «Neue Zürcher Zeitung» ihr gesamtes Archiv ins Internet gestellt und den AbonnentInnen kostenlos zugänglich gemacht: 233 Jahre Zeitung, Seite für Seite digitalisiert und als PDF durchsuchbar. Vom Unabhängigkeitskrieg der nordamerikanischen Kolonien über die Befreiung der schwarzen SklavInnen bis zur Einführung des Frauenstimmrechts 1971 in der Schweiz. Von der Gründung des Bundesstaats über den Generalstreik 1918 bis zur versuchten Abschaffung des Staats durch die neoliberalen Nachkommen seiner Gründer. Was sich seit 1780 irgendwo auf der Welt ereignet hat, kann jetzt – sofern die NZZ davon Kenntnis nahm – in zeitnahen Berichten nachgelesen werden: Ein wunderbares Rechercheinstrument liegt vor. Für Studierende oder Lehrende, für JournalistInnen mit historischen Vorlieben wie mich. Für Neugierige aller Gattung mit der notwendigen Zeit.
Unzugänglich war das NZZ-Archiv auch früher nicht. In vielen Bibliotheken gibt es Jahrgangsbände oder Mikrofilme, die man vor Ort benutzen kann. Wer sich für ein Thema besonders interessierte, durfte einst sogar direkt auf dem Zeitungsarchiv an der Zürcher Falkenstrasse vorsprechen, wo freundliche ältere Damen und Herren die Ausgaben vergangener Jahrzehnte über Stichwort- und Namenskarteien fein säuberlich erschlossen hatten. Auch die Digitalisierung ist nicht ganz neu. Eine elektronische Archivkopie sämtlicher Ausgaben wurde bereits 2005 mit grossem Aufwand fertiggestellt, 2006 erhielt die NZZ dafür einen Preis in den USA. Doch die digitale Kopie blieb unter Verschluss. Vielleicht überlegte das Verlagsmanagement noch, wie man sie möglichst profitabel verwerten könnte. 2009 begann die Onlineredaktion, regelmässig historische Zeitungsseiten als Faksimile auf der Website zu publizieren (vgl. WOZ Nr. 44/09). Und ungefähr vor Jahresfrist sind die alten NZZ-Bestände integral in der Schweizerischen Medien-Datenbank (SMD) aufgetaucht: Der Zugang dort kostet für Aussenstehende ziemlich viel Geld – mehr, als junge Studierende oder alte WOZ-Redaktoren sich leisten können.
Andere Archive waren leichter erreichbar. Das «Intelligenzblatt für die Stadt Bern», eine freisinnige Zeitung, die von 1834 bis 1922 erschien, kann seit Jahren im Netz gelesen werden (www.digibern.ch). Der «Journal de Genève», die «Gazette de Lausanne» und der «Nouveau Quotidien» – alles Vorgängerblätter des heutigen «Le Temps» – sind seit 2008 verfügbar und dank ihres Erscheinungszeitraums von 1803 bis 1998 historische Quellen von unschätzbarem Wert (www.letempsarchives.ch). In Frankreich und Österreich haben die Nationalbibliotheken ganze Jahrhunderte der Pressegeschichte fürs Netz aufbereitet, in Deutschland sind die «Spiegel»-Ausgaben seit 1949 freigeschaltet. All diese Archivprogramme funktionieren übrigens wesentlich schneller als jenes der NZZ.
Aber wer möchte denn jetzt noch reklamieren! Ist es nicht viel interessanter, die Gelegenheit beim Schopf zu packen und zu starten mit der Zürcher Zeitreise in die Jahrhunderte? Wegen der Zensur besteht das Blatt am Anfang leider fast nur aus Auslandsberichten. Wo beginnen? Bei den Machenschaften des Alchemisten Cagliostro am französischen Hof? Bei den Ballonflügen der Brüder Montgolfier? Beim Sturm auf die Bastille an einem «ewig merkwürdigen Dienstag»? Bei der Hinrichtung des Königs, über die es der NZZ fast die Sprache verschlug … Wir melden uns ab von der garstigen Gegenwart für mindestens 200 Jahre Lektüre.
Stefan Keller ist WOZ-Redaktor.
Die historischen Bestände der WOZ werden im Lauf des nächsten Jahrs übers Netz verfügbar.