Medientagebuch zur NZZ-Medien-Gruppe: Schatten ihrer selbst

Nr. 50 –

Stefan Keller zur Geschichte der NZZ und ihrer bedrohten Druckerei

Vor fast 150 Jahren war es ein ideologischer Entscheid. 1868 erschien der Zürcher Druckerei Orell Füssli & Cie. das von ihr herausgegebene liberale Kampfblatt allzu weit rechts positioniert. Soeben hatte eine linke Volksbewegung die politische Dominanz des Wirtschaftsfreisinns in Zürich gestürzt, das Machtsystem um den Eisenbahnkönig und Bankier Alfred Escher gesprengt und nach einem überwältigenden Abstimmungssieg eine Verfassungsrevision eingeleitet. Als die Firma Orell Füssli mitteilte, sie könne die neuerdings oppositionelle, wirtschaftsliberale «Neue Zürcher Zeitung» künftig nicht mehr über Wasser halten, sah sich das Zürcher Grossbürgertum vor die Wahl gestellt, sein Organ entweder eingehen zu lassen oder die Zeitung selbst zu betreiben. So entstand die AG für die Herausgabe der Neuen Zürcher Zeitung, die das seit 1780 bestehende Blatt übernahm, einen anderen Drucker suchte und viele Jahre lang keine oder kaum eine Dividende bezahlte, sondern Geld nachschob, weil die Zeitung eben nicht rentierte.

Zeitung machen war einst ein idealistisches Geschäft. Man gab politische Blätter heraus, um die öffentliche Meinung zu beeinflussen, und man opferte etwas dafür – bei der Rechten wie bei der Linken. Wer Druckereien besass, hatte es vermutlich leichter, eine politische Meinung zu publizieren; unter Umständen verlieh die eigene Druckerei der Zeitung sogar wirtschaftliche Stabilität. Allerdings waren Druckereien stets auch Orte der linken Agitation. Dort arbeiteten stolze, politisch bewusste Spezialisten. Schon 1858 hatten sich die Setzer und Drucker im Schweizerischen Typographenbund organisiert, und für ihre Rechte streikten sie gern.

Die frisch lancierte «Neue Zürcher Zeitung» von 1868 stagnierte bis in die 1890er Jahre. In der Blütezeit der Industrialisierung nahm das Bedürfnis nach Inseraten und Werbeanzeigen jedoch heftig zu. Neben politischen Zeitungen entstanden überall profitable Massenblätter wie der Zürcher «Tages-Anzeiger», die keine politische Mission vertraten, sondern nur Geld verdienen wollten. Auch die NZZ, zuletzt 1883 aus finanziellen Gründen beinahe eingestellt, profitierte vom Boom und baute sich 1898 – sobald sie konnte – eine eigene Druckerei, die schnell erweitert wurde. 1918 im landesweiten Generalstreik waren dann NZZ-Maschinen in der Lage, das Streikbrecherblättchen «Bürgerliche Presse» zu drucken.

2014 ist die Situation genau umgekehrt wie 1868. Die Beweggründe sind wohl auch diesmal ideologisch. Die NZZ will ihre technisch hoch ausgebaute und nach allen Informationen bestens ausgelastete Druckerei schliessen. Das vor zehn Jahren erstellte und kürzlich aufgerüstete Druckzentrum in Schlieren wird abgestossen. Eine hundertjährige Tradition verschwindet wegen obskurer Zukunftsprognosen. Im Zeitungsdruck profitiert davon der «Tages-Anzeiger», bei dem es auch heute noch (oder wieder) nur ums Geldverdienen geht. Der NZZ als der vermutlich ältesten Zeitung auf dem europäischen Kontinent leistet noch die vermutlich älteste Gewerkschaft auf dem Kontinent einigen Widerstand, der frühere Typographenbund, der in der Syndicom weiterlebt. Sowohl die Zeitung als auch die Gewerkschaft sind nur noch Schatten ihrer selbst. Die Zeitung hat die grossbürgerlichen, opferwilligen Mäzene verloren, sie muss sich heute im Gegenteil vor rechtsextremen Milliardären schützen. Und die Gewerkschaft hat schon lange nicht mehr bewiesen, dass sie wie früher streiken könnte.

Stefan Keller ist WOZ-Redaktor und Historiker; als Vertreter der JournalistInnen sitzt er auch im Zentralvorstand der Mediengewerkschaft Syndicom.

 Nach Redaktionsschluss dieser Seite wurde bekannt, dass NZZ-Chefredaktor Markus Spillmann per Ende 2014 von seiner Funktion zurücktritt. Seit dem 19. Jahrhundert wurden keine NZZ-Chefredaktoren mehr abgesetzt.