Krankenkassenprämien: «Niemand kontrolliert die Krankenkassen»
In keinem Kanton steigen die Krankenkassenprämien so stark wie in Appenzell Ausserrhoden. Gesundheitsdirektor Matthias Weishaupt kritisiert die Intransparenz der Krankenkassen. Denn sie legen nicht offen, woher die Preissteigerung kommt.
Matthias Weishaupt, im Schweizer Durchschnitt steigen die Krankenkassenprämien fürs kommende Jahr um 2,2 Prozent, bei Ihnen um 3,8 Prozent. Rennen plötzlich alle zum Doktor?
Matthias Weishaupt: Eher nicht. Wir können uns den Prämienanstieg selber überhaupt nicht erklären. Wir zahlen insbesondere bei den Spitalaufenthalten einen grossen Teil an die Gesundheitskosten. Diese Kosten sind aber nicht übermässig gestiegen.
Wie erklären es denn die Krankenkassen?
Bislang haben wir noch keine Erklärung erhalten. Für uns sind die Prämienerhöhungen eine absolute Blackbox. Die Krankenkassen legen ihre Berechnungen nicht offen, also können wir auch nicht nachvollziehen, warum die Kosten in unserem Kanton plötzlich überproportional steigen. Vermutungen gibt es schon. So wird etwa gesagt, die Kassen seien im Ausserrhodischen in Unterdeckung, sie hätten also zu wenig Reserven zur Seite gelegt. Möglich, dass sie das nun mit der Prämienerhöhung ausgleichen wollen. Aber auch bezüglich der Unterdeckung konnten uns die Krankenkassen nie genau erklären, wie gerechnet wird. Der Ausgleich einer allfälligen Prämienerhöhung wäre zurzeit ohnehin nicht opportun. Denn im Parlament ist eine Vorlage in Beratung, die genau dieses Problem lösen möchte.
Können die Kassen willkürlich die Prämien in die Höhe treiben?
Willkürlich ist ein sehr starkes Wort. Ich würde sagen: nicht nachvollziehbar. Und zwar weder für die Prämienzahlenden noch für die Regierungen. Wir sind ja nicht die Einzigen, die die heutige Praxis kritisieren. In den Kantonen St. Gallen und Zürich gibt es ebenfalls einen Prämienanstieg, der sich nicht erklären lässt. Früher kamen die Proteste jeweils eher aus der Westschweiz. Pierre-Yves Maillard, der SP-Gesundheitsdirektor aus dem Kanton Waadt, hat sich früher immer mal wieder gewehrt, weil er der Meinung war, in seinem Kanton stiegen die Prämien unbegründet stark an. Im Moment sagt er nichts, weil der Anstieg in der Waadt moderater ausfällt.
Das Bundesamt für Gesundheit sollte doch die Kassen unter Kontrolle haben.
Das BAG hat noch nie die Prämien beaufsichtigt oder kontrolliert. Die privaten Krankenversicherer legen ihre Bücher auch dem BAG gegenüber nicht offen. Das Einzige, was passiert, ist ein Informationsaustausch zwischen Bundesamt und Versicherern. Und dann gibt das BAG den Kantonen die neuen Prämien bekannt. Die fehlende Aufsicht ist ein Skandal. Das sieht man auch bei den Zusatzversicherungen.
Können Sie das ausführen?
Früher war es so, dass die Grundversicherung nur die Kosten für einen Spitalaufenthalt im eigenen Wohnkanton bezahlt hat. Dann wurde die Spitalfinanzierung neu geregelt. Seit Anfang 2012 müssen die Kantone auch zahlen, wenn sich PatientInnen in einem Spital ausserhalb des Kantons behandeln lassen, sofern es auf der sogenannten Spitalliste ist. Das konnte man früher nur beanspruchen, wenn man eine entsprechende Zusatzversicherung abgeschlossen hatte. Die Prämien für diese Zusatzversicherungen hätten vor zwei Jahren stark gesenkt werden müssen, weil die Kantone die ausserkantonalen Hospitalisationen jetzt wesentlich mitfinanzieren. Die Kosten für die Kassen sind entsprechend gesunken, doch geben sie diese Einsparungen nicht an die Prämienzahlenden weiter.
Hätte das BAG einschreiten müssen?
Für die Aufsicht bei den Zusatzversicherungen ist die Eidgenössische Finanzmarktaufsicht (Finma) zuständig. Letzte Woche – reichlich spät – hat die Finma eine Korrektur für die Prämien 2014 gefordert. Auf der einen Seite ist dies erfreulich. Auf der anderen Seite müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass die überhöhten Prämien bei der Zusatzversicherung in den Jahren 2012 und 2013 unangetastet bleiben. Die Krankenkassen haben damit ohne Not Reserven in unbekannter Höhe gebildet.
Was kann man dagegen unternehmen?
Alle Kantone sind ziemlich verärgert – es ist überhaupt keine Frage von links oder rechts. Bürgerliche Gesundheitsdirektoren sind genauso aufgebracht, weil sie ja ihren Leuten nicht erklären können, weshalb nun die Prämien plötzlich überproportional steigen. Nachdem ich die Intransparenz öffentlich stark kritisiert hatte, haben die Krankenversicherer um ein Treffen gebeten. Wir treffen uns an diesem Freitag mit ihnen.
Wer genau ist bei diesem Treffen dabei?
Die Ostschweizer Gesundheitsdirektorenkonferenz, da gehören die Kantone Schaffhausen, Thurgau, St. Gallen und beide Appenzell dazu, aber auch Glarus, Graubünden, Zürich. Wir repräsentieren sehr viele Versicherte.
Und was fordern Sie?
Transparenz.
Was passiert, wenn das nichts fruchtet?
Auf nationaler Ebene tut sich ebenfalls einiges. In der nächsten Session wird im Nationalrat das Bundesgesetz über die Aufsicht der Krankenversicherer beraten. Die Schweizerische Konferenz der Gesundheitsdirektorinnen und -direktoren (GDK) hat vor wenigen Tagen eine Mail an alle Fraktionen geschickt, in der sie die Parlamentarier auffordert, dieses Gesetz zu unterstützen (vgl. «Die Kantone machen Druck» im Anschluss an diesen Text). Im Kern legt das Gesetz fest, dass die Versicherer künftig Prämien zurückzahlen müssen, wenn sich bei der Abrechnung herausstellt, dass die Versicherten gar nicht so hohe Kosten verursacht haben.
Das neue Gesetz würde also zwingend mehr Transparenz bringen?
Das hoffen wir, und das ist für uns Gesundheitsdirektoren auch sehr wichtig. Wir ergreifen ja in den Kantonen diverse Massnahmen, um zu verhindern, dass die Gesundheitskosten unnötig ansteigen. Wenn die Krankenkassen aber keine transparente Abrechnung vorlegen, können wir nicht überprüfen, ob unsere Massnahmen überhaupt wirken. Das blockiert und lähmt.
Ist das Problem nicht vielmehr, dass die Krankenkassen innerhalb der Grundversicherung Wettbewerb spielen, obwohl es gar keinen Wettbewerb gibt – gar nicht geben kann?
Richtig! Es ist absurd, wenn man sieht, wie einige Kassen für viel Geld Werbung machen, um die Leute zum Wechseln zu animieren. Aber es müssen ja in der Grundversicherung alle exakt dasselbe anbieten. Es wäre, wie wenn alle nur die exakt gleichen rosa Zahnbürsten anbieten dürften – und trotzdem tun alle so, als ob es einen Unterschied gäbe und man einen Wettbewerb inszenieren könnte.
Gibt es eine Kasse, die Sie empfehlen würden, weil sie politisch anständiger ist als andere?
Leider nein, es gibt keine, die sozialer wäre.
Ist demnach die Einheitskasse die einzige logische Antwort auf das Gemauschel der Krankenkassen?
Klar. Allerdings bin ich nicht für eine gesamtschweizerische Einheitskasse, sondern für regionale Modelle.
Warum das?
Ich möchte nicht, dass unsere Prämien auf das Niveau von Genf oder der Waadt steigen. Das Westschweizer Gesundheitssystem ist teurer, weil es auf einer anderen Tradition und einer anderen Kultur basiert. Es wäre sinnvoll, Einheitskassen regional zu verankern. Mehrere Kantone, die ohnehin zusammenarbeiten sollten, könnten gemeinsam eine Einheitskasse führen. Damit hätten wir einen vollständigen Überblick, was an Prämien reinkommt und wo die Kosten verursacht werden. Niemand könnte einen Gewinn abschöpfen. Und wir Gesundheitsdirektoren hätten endlich Einblick, ob und wie die Sparmassnahmen im Gesundheitsbereich greifen. Das müsste die Versicherer eigentlich auch interessieren.
Warum? Diese profitieren doch von der Intransparenz.
Nur zum Teil. Mit der neuen Fallkostenpauschale haben wir in den Spitälern ein völlig neues Abrechnungssystem eingeführt. Kommt ein Patient, eine Patientin ins Spital, wird eine Diagnose gestellt, aufgrund dieser Diagnose erhält das Spital einen pauschalen Betrag, mit dem es die Person gesund machen sollte. Es ist deshalb wichtig, zu überprüfen, dass die richtigen Diagnosen gestellt werden. Das geht nur, wenn das System für die Kantone wie für die Versicherer transparent ist – denn wenn falsche Diagnosen gestellt werden, werden die Pauschalen unnötig hoch, und das ganze System wird teurer, ohne dass die Patienten und Patientinnen etwas davon hätten. Die Kantone und die Krankenkassen sind also nicht nur Gegner, wir haben grosse gemeinsame Interessen.
Geregelte Kontrolle : Die Kantone machen Druck
Appenzell Ausserrhoden hat – wie die meisten ländlichen Kantone – im schweizerischen Vergleich relativ tiefe Krankenkassenprämien. Fürs kommende Jahr steigen sie jedoch mit 3,8 Prozent überproportional stark an. Auch in den Kantonen St. Gallen (plus 3,6 Prozent) und Appenzell Innerrhoden (3,1 Prozent) gehen sie massiver in die Höhe als anderswo (Schweizer Durchschnitt 2,2 Prozent).
Als Mitte der neunziger Jahre das neue Krankenversicherungsgesetz (KVG) in Kraft trat, brachte es einige Verbesserungen: Es sorgt dafür, dass alle, die in der Schweiz leben, krankenversichert sind. Die Grundversicherung garantiert eine gute Gesundheitsversorgung. Jeweils im November kann man die Grundversicherung kündigen und zu einer günstigeren Kasse wechseln; die Kassen dürfen niemanden abweisen. Allerdings versäumte es das KVG, die Kontrolle der Krankenkassen zu regeln. Deshalb hat auch das Bundesamt für Gesundheit (BAG) kaum eine Möglichkeit, von den Kassen Transparenz einzufordern.
Der Bundesrat hat nun ein «Bundesgesetz betreffend die Aufsicht über die soziale Krankenversicherung» ausgearbeitet, das dem BAG endlich erlauben würde, die Kassen besser zu kontrollieren. Zudem sollen künftig Prämien zurückerstattet werden, wenn die Versicherten mehr einbezahlt haben, als die Kassen für sie ausgeben mussten. Das Gesetz würde endlich nachvollziehbar machen, wie die Kassen rechnen und wie viel Gewinn sie abschöpfen.
Der Ständerat hat dem Gesetz in der Frühjahrssession deutlich zugestimmt. Der Nationalrat wird es nun in der Dezembersession beraten. Die vorberatende Kommission des Nationalrats will aber die Vorlagen verwässern und nochmals an den Bundesrat zurückweisen.
Das missfällt der schweizerischen Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektorinnen und -direktoren (GDK). Sie schickten vor wenigen Tagen allen Fraktionen einen Brief, in dem sie die ParlamentarierInnen auffordern, die bundesrätliche Vorlage zu unterstützen: «Die GDK lehnt eine Rückweisung des Geschäfts an den Bundesrat grundsätzlich ab. Eine Nichtberücksichtigung der Rückerstattung übermässiger Prämieneinnahmen bei der Regelung der zukünftigen Aufsicht wäre für die Kantone nicht akzeptabel.»