Gesundheitswesen: Alles nur Pflästerlipolitik?

Nr. 16 –

Gesundheitskosten und Krankenkassenprämien steigen – und das Parlament ist unwillig, das Gesundheitssystem zu reformieren. Zwei Initiativen erhöhen nun den Druck.

Operationssaal eines ambulanten Zentrums in Zürich
Die Technik wird effizienter: Resultiert daraus ein Kostenvorteil, wird er jedoch meist nicht an die Patient:innen weitergegeben. Ambulantes Zentrum in Zürich. Foto: Michael Buholzer, Keystone

Die Kosten im Gesundheitssystem steigen laufend, und die Versicherten bezahlen immer höhere Krankenkassenprämien: aktuell 8,7 Prozent mehr als im Vorjahr. Schon 2023 waren es 6 Prozent mehr als 2022.

Neu ist das Problem der wachsenden Prämienlast nicht. Immerhin: Seit es das Krankenkassenobligatorium gibt, seit also das Krankenversicherungsgesetz (KVG) 1996 in Kraft getreten ist, müssen Bund und Kantone einkommensschwachen Haushalten mit Verbilligungen unter die Arme greifen. Das funktionierte – allerdings immer schlechter, weil sich die Kantone mehr und mehr aus der Verantwortung stahlen und bei den Prämienverbilligungen sparten. Bereits seit 1999 sind diese Hilfen rückläufig. Damals erhielten noch 32 Prozent der Versicherten Prämienverbilligungen, bis 2021 sank der Anteil auf 27 Prozent – bei stetig steigenden Prämien. Wie steil diese Kurve nach oben weist, zeigt ein Blick in den Prämienindex des Bundesamts für Statistik. Lag der Durchschnitt aller bezahlten Prämien 1996 noch bei rund 1539 Franken pro Jahr, ist er bis 2021 auf 3788 Franken, also mehr als das Doppelte, angestiegen. Die Löhne stiegen im gleichen Zeitraum bloss um 12 Prozent. Besonders schmerzhaft spüren das Menschen mit tiefen und mittleren Einkommen.

Das liegt in erster Linie daran, dass die Schweiz als einziges OECD-Land keine einkommensabhängige Finanzierung der Gesundheitskosten kennt. Während in fast allen EU-Ländern rund 80 Prozent der Ausgaben im Gesundheitswesen über Steuern und/oder Lohnbeiträge finanziert werden, sind es in der Schweiz nur 23 Prozent. Die Prämien decken weitere 36 Prozent, andere Sozialversicherungen 9 Prozent. Das restliche Drittel finanzieren die Patient:innen über Selbstzahlungen – so viel wie in keinem anderen OECD-Land. Um Menschen mit tiefen und mittleren Einkommen zu entlasten, bräuchte es also erstens eine gerechtere Verteilung der Kosten. Und zweitens die Vermeidung von Kosten, die gar nicht nötig sind, um das bisherige Niveau der Grundversorgung weiterhin zu gewährleisten.

Weniger Spitäler

Die Umsetzung der Prämienentlastungsinitiative der SP (vgl. «Das wollen die Initiativen») wäre ein erster Schritt hin zu einer sozialeren Kostenverteilung – mehr allerdings nicht. Denn auch wenn landesweit garantiert wäre, dass – wie die Initiative verlangt – kein Haushalt mehr als zehn Prozent seines verfügbaren Einkommens an Prämien zahlen müsste, wäre das Kostenproblem noch lange nicht gelöst. Die Gegner:innen der Initiative monieren denn auch, dass sie keine Vorschläge zu einer Kostenbremse beinhalte.

Ein Ja könnte immerhin ein etwas grösseres Kostenbewusstsein bewirken: Dass die öffentliche Hand mit der ausgebauten Prämienverbilligung mehr Finanzierungsverantwortung übernähme, würde den Druck erhöhen, die Mittel effizienter einzusetzen. Zudem hätte der Bund mehr Steuerungsmacht, da er finanziell stärker eingebunden wäre als die Kantone.

Das wollen die Initiativen

Gleich zwei Vorlagen, über die die Stimmbevölkerung am 9. Juni abstimmen wird, wollen das Gesundheitswesen reformieren. Die Prämienentlastungsinitiative der SP verlangt, dass kein Haushalt mehr als zehn Prozent seines verfügbaren Einkommens für Krankenkassenprämien zahlen muss. Um das zu erreichen, sollen Bund und Kantone die Prämienverbilligung erhöhen – wobei der Bund mindestens zwei Drittel übernehmen soll. Bundesrat und Parlament haben einen indirekten Gegenvorschlag ausgearbeitet, der die Kantone verpflichten würde, einen Mindestbeitrag zur Prämienverbilligung zu leisten.

Die Kostenbremse-Initiative der Mitte-Partei will, dass Lohnentwicklung und Wirtschaftswachstum vorgeben, wie stark die Kosten der obligatorischen Krankenversicherung maximal steigen dürfen. Der Bund soll zusammen mit den Kantonen, den Krankenversicherern und den Leistungserbringern Massnahmen zur entsprechenden Kostenbremse ergreifen. Auch dazu existiert ein Gegenvorschlag – der den Akteur:innen des Gesundheitswesens vorgeben würde, alle vier Jahre die Kostenziele festzulegen.

Das wäre gerade auch im Hinblick auf eine kantonsübergreifende Spitalplanung von Bedeutung. In der Schweiz gibt es über 250 Spitäler. Die föderalistische Organisation des Gesundheitswesens hat dazu geführt, dass grössere Spitäler mit annähernd gleichem Angebot teilweise nur wenige Kilometer voneinander entfernt sind. Fachleute wie der Präventivmediziner und ehemalige FDP-Ständerat Felix Gutzwiller plädieren deshalb für kantonsübergreifende Versorgungsnetze mit je einem grösseren Zentrumsspital, flankiert von Gesundheitszentren für den ambulanten Bereich. Ginge es nach Gutzwiller, müssten die Kantone «die Spitalversorgung gemeinsam für die ganze Schweiz planen – mit weniger Spitälern, die dafür spezialisierter, fokussierter und mit mehr Mitteln arbeiten können», wie er letzthin in der «SonntagsZeitung» forderte. Dagegen wehren sich bislang jedoch die meisten Kantone.

Auch sonst gäbe es genug Hebel, das Gesundheitswesen effizienter zu gestalten – was laut einer 2019 im Auftrag des Bundesamtes für Gesundheit (BAG) publizierten Studie mindestens acht Milliarden Franken pro Jahr einsparen könnte. Als unnötige Kostentreiber werden darin unter anderem aufgeführt: zu viele überflüssige Tests und Untersuchungen, diagnostische Verfahren und Laboranalysen; zu viele stationäre Behandlungen, die auch ambulant durchgeführt werden könnten. Auch dass Spitäler und Praxen Einsparungen, die sie dank technologischer Fortschritte bei medizinischen Geräten erreichen, nicht an die Patient:innen weitergeben, ist ein Missstand. Bereits 2021 hielt die Finanzmarktaufsicht Finma in einem Bericht fest, dass Spitäler und Ärzt:innen intransparente Rechnungen an Zusatzversicherte ausstellen. Unlängst hat eine Studie der Universität Zürich ausserdem ergeben, dass viele Arztrechnungen zu hoch sind: Jährlich wird rund eine Milliarde Franken zu viel verrechnet.

Warnung vor Zweiklassenmedizin

Sparpotenzial gäbe es auch in der Pharmabranche: Laut der BAG-Studie von 2019 könnten jährlich mehrere Hundert Millionen Franken allein dadurch eingespart werden, dass Originalpräparate konsequent durch Generika ersetzt und ausserdem die im internationalen Vergleich überhöhten Preise für Letztere gesenkt würden. Eine entsprechende Vorlage der Gesundheitskommission wurde abgeschmettert. Federführend: SVP-Nationalrat Thomas de Courten, Präsident der Gesundheitskommission – und Verbandspräsident von Intergenerika Schweiz. Nicht zuletzt trägt der Pseudowettbewerb der Krankenkassen zur unnötigen Kostensteigerung bei. Ins Auge fallen dabei die Verwaltungskosten, die Jahr für Jahr steigen – laut Recherchen der «Republik» um über fünfzehn Prozent allein zwischen 2017 und 2021.

Grund für viele Missstände sind die zahlreichen Lobbyverbindungen ins Parlament. Dieses zeigte sich bislang denn auch unwillig zu Reformen: Von 38 kostendämpfenden Massnahmen, die eine vom damaligen Gesundheitsminister Alain Berset beauftragte Arbeitsgruppe 2017 vorgeschlagen hatte, sind bis heute bloss zehn in Kraft getreten, so etwa die Pflicht zur Rechnungskopie an Versicherte, die Förderung von ambulanten Pauschalen oder das Recht für Apotheken, preisgünstigere Arzneimittel abzugeben. Immerhin hat sich das Parlament inzwischen für die Einführung von Kostenzielen ausgesprochen – in Form eines Gegenvorschlags zur Initiative der Mitte-Partei. Diese will die Gesundheitskosten an die Lohnentwicklung und das Wirtschaftswachstum koppeln, gibt aber nicht vor, wie, wo und auf wessen Kosten gespart werden soll, wenn das denn angezeigt wäre. Gegner:innen warnen bereits vor einer Zweiklassenmedizin – weil sich die Krankenkassen auf den starren Kostendeckel berufen und Leistungen einfach nicht mehr bezahlen würden.

Weder die SP- noch die Mitte-Initiative lösen also die Kernprobleme im Gesundheitswesen, erhöhen aber immerhin den Druck auf das Parlament. Zur tatsächlichen Gesundung jedoch bräuchte es entschiedenere Reformen: etwa die Abschaffung der unsozialen Kopfprämien – und des Pseudomarktes im Krankenkassenwesen.

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Kommentare

Kommentar von ve@6500

Fr., 19.04.2024 - 21:03

«In der Schweiz gibt es über 250 Spitäler. »
Warum wird hier keine exakte Zahl angegeben? Definition von Spital sollte eindeutig sein. Merci für Klärung.