Das Leben der anderen (4): Muss heiss sein hinter den Lamellen

Nr. 49 –

Illustration: Marcel Bamert

Da steht er wieder und raucht. Wie immer im weissen T-Shirt (kurzärmlig, auch im Winter) und mit schwarzen Adidas-Shorts. Steht da und pafft. Entfernt sich nie mehr als zwei, drei Schritte von der Balkontür. Dabei zieht sich der Balkon wie bei uns zwölf Meter der ganzen Wohnung entlang. Doch da steht keine Pflanze, kein Tisch, kein Stuhl, kein Grill.

Wobei, ganz sicher bin ich mir nicht. Denn wo die Metallstäbe des Balkongeländers sonst in der Siedlung den Blick auf die durchgehende Glasfront und in die Wohnung erlauben, sind sie gegenüber mit einer farblosen Plastikblache umwickelt. Dahinter eine Fassade, graue Lamellen. Die Rollläden sind unten. Immer. Ausser natürlich bei der Balkontür, die den Blick auf den dritten Schutzwall freigibt: Vorhänge.

Er raucht oft, unser Nachbar. Bin ich zu Hause, steht er über kurz oder lang da und zieht an einem Glimmstängel. Früher begleitete ihn manchmal eine blonde Frau nach draussen und rauchte eine mit. Dann gings zurück in den Bunker.

Kürzlich kam meine Nachbarin vorbei. «Weisst du, was ich denke?» Wir betrachteten gerade, wie er sich eine zweite Zigarette anzündete. In Shorts und T-Shirt, wie immer. Muss heiss sein hinter den Lamellen und Vorhängen. «Ich denke, die drehen da drin Pornos.» Mir kam in den Sinn: Einmal war ein blondes Mädchen, vielleicht acht oder neun, auf dem Balkon aufgetaucht. Ich habe sie nie wieder gesehen. Wie man auch sonst nie andere Menschen dort drüben sieht.

Vor ein paar Tagen ging ich nachts durch unsere dunkle Wohnung (die, ohne Rollladen und Vorhänge, nie wirklich dunkel ist). Da stand er, näher als sonst, beim Balkongeländer und blickte in meine Richtung. Für einen langen Moment starrten wir uns gegenseitig an (vermutlich). Ob er ahnt, was ich zuweilen denke?

Oder hätte ich winken sollen?