Welthandelsorganisation: Ein kleiner Sieg – aber nur für Indien

Nr. 50 –

Die WTO-Ministerkonferenz auf Bali überraschte: Zum ersten Mal seit bald zwanzig Jahren kam ein Abkommen zustande. Ernährungssicherheit gegen Handelserleichterungen, so heisst der Deal, doch viele Bedenken bleiben.

Kaum jemand hatte grosse Erwartungen. Es sah aus, als würde auch die neunte Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation (WTO), die vom 3. bis zum 6. Dezember auf Bali stattfand, zu Ende gehen wie alle bisherigen: ergebnislos. Zu gross schienen die Differenzen, vor allem zwischen den USA und Indien. Die 2001 in Katar gestartete Doha-Runde war in den letzten Jahren immer wieder für tot erklärt worden. Doch in der Nacht auf Samstag kam die Überraschung: Die VertreterInnen der 159 Mitgliedstaaten einigten sich auf das sogenannte Bali-Paket. Zum ersten Mal seit ihrer Gründung 1995 hat die WTO ein Abkommen zustande gebracht.

«Das Ergebnis von Bali ist ein Sieg für Indien», sagt Isolda Agazzi, Handelsexpertin von Alliance Sud, der Arbeitsgemeinschaft der grossen Schweizer Hilfswerke. «Es öffnet die Tür für eine Überarbeitung der WTO-Regeln über die Landwirtschaft.» Indiens Handelsminister Anand Sharma hat eine Ausnahmeregelung durchgesetzt: Indien darf seinen eigenen BäuerInnen Getreide zu guten Preisen abkaufen, damit Lager aufbauen und das Getreide der armen Bevölkerung günstig wiederverkaufen. Der Staat plant, allen Bedürftigen – das sind zwei Drittel der Bevölkerung – fünf Kilo Getreide pro Monat fast gratis abzugeben.

Lange wurde über die Details gestritten. «Die Ausnahmeregelung soll nun in Kraft bleiben, bis eine permanente Lösung gefunden wird», sagt Agazzi, die die Verhandlungen auf Bali live mitverfolgt hat. «Das soll spätestens am elften WTO-Ministertreffen in vier Jahren geschehen.» Eine gewichtige Einschränkung gibt es allerdings: Die Ausnahmeregelung gilt nur für Nahrungsmittelprogramme, die bereits aufgegleist sind. Darum profitieren nur Indien und die Philippinen davon. Ursprünglich forderte Indien das Recht auf solche Programme für alle armen Länder.

Zollämter statt Schulen

Die reichen Länder haben eingewilligt, weil sie auch etwas bekommen: Handelserleichterungen im Zollbereich. Kritische NGOs waren im Vorfeld sehr skeptisch: Armen Ländern fehle es an Geld, Technik und Personal. «Statt ihre Schulen müssten diese Länder ihre Zollämter mit Computern ausrüsten, statt die Infrastruktur der Spitäler jene der Häfen ausbauen», schrieb Deborah James vom kritischen US-Thinktank Center for Economic and Policy Research. Auch Isolda Agazzi sah viele Gefahren: Das Abkommen werde den Spielraum der armen Länder einschränken, zu Verlusten bei Zolleinnahmen und zu höheren Importen in die armen Länder führen, da die reicheren den Spielraum besser nutzen könnten. Jetzt, nach der Konferenz, ist Agazzi jedoch zufrieden: «Es sind drei Kategorien mit verschiedenen Anforderungen und Fristen vorgesehen, und jedes Land kann entscheiden, in welche es möchte.»

Bilateral ist schlimmer

Weniger zufrieden ist Agazzi mit den anderen Teilen des Bali-Pakets: Weder zu Exportsubventionen noch zu Verbesserungen für die am wenigsten entwickelten Länder wurde etwas Verbindliches beschlossen. Agrarexportländer, die es sich leisten können, bezahlen Exportsubventionen, um ihre Produkte auf dem Weltmarkt unter den Produktionskosten verkaufen zu können. Das ruiniert die BäuerInnen ärmerer Länder – sei es billiger US-Mais in Mexiko oder billiges EU-Poulet in Westafrika. Auch die Schweiz bezahlt Exportsubventionen: Mit den Geldern des sogenannten Schoggigesetzes werden Schweizer Milch und Getreide für die Lebensmittelindustrie auf EU-Preisniveau verbilligt, wenn das Endprodukt exportiert wird. Obwohl es dabei vor allem um Luxusprodukte wie Schokolade und andere Süssigkeiten geht, bleibt das Gesetz problematisch.

Bei diesem Thema sind sich Wirtschaftsliberale und Linke ausnahmsweise einig: Beide lehnen Exportsubventionen ab – die Liberalen geisseln sie wegen «Marktverzerrung». Die Schwellenländer forderten vor Bali eine Halbierung der Exportsubventionen bis Ende Jahr. Doch im Bali-Paket bleibt es bei blossen Absichtserklärungen.

Das Gleiche gilt für die am wenigsten entwickelten Länder. Sie wären besonders angewiesen auf ein Ende der Exportsubventionen. Dank dieser und anderer Stützungen können die USA so billig Baumwolle auf den Weltmarkt werfen, dass die westafrikanischen Länder keine Chance haben.

Thomas Braunschweig, bei der Erklärung von Bern zuständig für Handelspolitik, findet das Ergebnis von Bali eine zwiespältige Sache. «Ein Scheitern dieser Konferenz wäre ein Zeichen gewesen, dass die Grenzen für immer weitere Liberalisierungen erreicht sind. Das wäre für die Entwicklungsländer positiv gewesen.» Anderseits habe der Erfolg auch sein Gutes, denn er stärke das multilaterale System. «Wir brauchen handelspolitische Regulierungen, und dafür ist die WTO besser geeignet als bilaterale Abkommen.»

Denn weil die WTO mehr als zehn Jahre blockiert war, setzten die mächtigen Staaten immer mehr auf Abkommen zwischen einzelnen oder mehreren Ländern. Geplante Abkommen wie zum Beispiel das Transatlantische Freihandelsabkommen (TTIP oder Tafta) oder auch die Transpazifische Partnerschaft (TPP) hält Thomas Braunschweig für hochproblematisch: «Die Wikileaks-Dokumente über das TPP zeigen: Es ist ein Wunschzettel der Pharmabranche.» Im Vergleich dazu sei die WTO das kleinere Übel, weil sich dort schwächere Länder zusammenschliessen könnten.

Andere halten nicht viel vom kleineren Übel. «WTO raus aus der Landwirtschaft!», fordern die globale bäuerliche Bewegung Via Campesina und andere globalisierungskritische Gruppen seit langem. Sie protestierten auch auf Bali – doch die Medien berichteten kaum, anders als während der grossen Proteste um die Jahrtausendwende.

Isolda Agazzi von Alliance Sud kann die Forderung nachvollziehen: «Vielleicht wäre es besser, wenn sich statt der WTO die FAO, die Ernährungsorganisation der Uno, um die Landwirtschaft kümmern würde.» Aber das sei utopisch. «Es gibt nun mal einen Welthandel mit Nahrungsmitteln, und dafür braucht es Regeln. Die Entwicklungsländer müssen Agrarprodukte exportieren können, weil das einer der wenigen Bereiche ist, in denen sie komparative Vorteile haben.»

Doch die Regeln der WTO, die in den neunziger Jahren aus der Uruguay-Runde des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens (Gatt) hervorgingen, folgten von Anfang an einem wirtschaftsliberalen Dogma: Freihandel, freie Märkte und Konkurrenz führen zu Wohlstand für alle. Doch die Wirklichkeit sieht anders aus. Die Ernährungskrise von 2008 hat gezeigt, dass Weltmarktabhängigkeit sehr schnell zu Hunger führt, wenn die Nahrungsmittelpreise steigen. Auch der viel beachtete Weltagrarbericht aus dem Jahr 2008 wies vorsichtig darauf hin, dass die Öffnung landwirtschaftlicher Märkte negative Folgen haben könne.

Wer profitiert?

Lange forderten Hilfswerke und Solidaritätsgruppen agrarpolitisch vor allem eines: Marktzugang im Norden für Lebensmittel aus dem Süden. Das Umdenken begann in den neunziger Jahren, als viele BäuerInnen des Südens selbst begannen, etwas anderes zu fordern: Ernährungssouveränität, ein von Via Campesina entwickeltes Konzept. Dazu gehören das Recht der Bevölkerung von Ländern und Regionen, ihre Agrarpolitik selbst zu bestimmen, das Verbot von Preisdumping durch Exportsubventionen, der Vorrang einer kleinbäuerlichen Landwirtschaft für die regionale Versorgung und der Zugang zu Land, Wasser, Saatgut und Krediten.

«Man muss schon fragen, wer vom Welthandel profitiert», sagt Isolda Agazzi. «Es sind vor allem Agrarexportländer wie Brasilien und Argentinien, nicht die Kleinbauern in Afrika. Die Länder sollten nicht so abhängig vom Welthandel werden.» Das Konzept der Ernährungssouveränität habe auch Alliance Sud und andere Hilfswerke beeinflusst, sagt sie: «Die Priorität liegt bei der Ernährung der eigenen Bevölkerung, nicht bei den internationalen Märkten. Jedes Land sollte in der Lage sein, zu entscheiden, was es produzieren und was es importieren will.»

Trotz des kleinen Siegs von Indien – diese Prinzipien stehen den Dogmen der WTO diametral entgegen.