Ernährungssouveränität und die Schweiz: Verwirrung um einen Begriff
Viele brauchen das Wort «Ernährungssouveränität», wenn sie über Schweizer Agrarpolitik reden. Aber sprechen sie alle vom Gleichen?
Wer hats erfunden? Im Fall Ernährungssouveränität ist der Fall eigentlich klar: Es war die internationale kleinbäuerliche Bewegung Via Campesina. Sie hat den Begriff 1996 am Gipfel der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) in Rom vorgestellt. Und zwar mit folgender Definition: «Ernährungssouveränität bezeichnet das Recht der Bevölkerung eines Landes oder einer Union, die Landwirtschafts- und Konsumentenpolitik selber zu bestimmen, ohne Preisdumping gegenüber anderen Ländern.» Via Campesina definiert den Begriff in einer Reihe von Punkten näher: Vorrang hat die Produktion für die Region, nicht für den Weltmarkt; der Zugang der BäuerInnen zu Land, Wasser, Saatgut und Krediten muss gewährleistet sein; und sie brauchen kostendeckende Preise.
Vermutlich steht die Ernährungssouveränität schon bald im Schweizer Landwirtschaftsgesetz: Vor drei Jahren reichte der Direktor des Schweizerischen Bauernverbandes, FDP-Nationalrat Jacques Bourgeois, eine entsprechende parlamentarische Initiative ein. Bourgeois möchte das Landwirtschaftsgesetz ergänzen mit der Formulierung «nachhaltige, auf den Markt und die Ernährungssouveränität ausgerichtete Produktion». Ausserdem will er einen neuen Satz einfügen: «Er (der Bund) stellt sicher, dass der Bedarf der Bevölkerung vorwiegend durch eine qualitativ hochwertige, nachhaltige und diversifizierte einheimische Produktion gedeckt wird.» Beide Räte haben das Anliegen befürwortet.
Importe regeln, Exporte verbilligen?
Aber nicht alle meinen das Gleiche, wenn sie von Ernährungssouveränität sprechen. Das zeigen die agrarpolitischen Diskussionen in der Schweiz. So sagte der Berner BDP-Ständerat Werner Luginbühl 2010 im Parlament, es gehe «um die Frage: Welcher Anteil an der Nahrungsmittelversorgung durch inländische Produktion soll künftig angestrebt werden?». Andere verkürzen die Definition auf «das Recht, die Landwirtschaftspolitik selber zu bestimmen».
Das ist überhaupt nicht im Sinn von Via Campesina: Selbstbestimmung ohne Einschränkung kann auch heissen, dass ein Staat ganz auf Dumping setzt, also seine Produkte zu einem Preis unter den Herstellungskosten auf den Weltmarkt wirft. Entscheidend für Via Campesina ist, dass ein Land sich zwar vor Billigimporten schützen darf, zum Beispiel durch Zölle, sich gleichzeitig aber verpflichtet, selber keine Exporte zu verbilligen. Erst das macht Ernährungssouveränität zu einem global solidarischen Instrument.
Der Ethiker Thomas Gröbly schreibt dazu: «Es geht nicht um nationalistische Abschottung, sondern um eine Stärkung der lokalen Beziehungen, damit die globalen Herausforderungen gelöst werden können» (siehe WOZ Nr. 24/08).
Der Bauernverband (SBV) spricht jedoch seit Jahren von Ernährungssouveränität, ohne die Exportproblematik zu erwähnen. Kein Wunder: Der SBV hat Exportsubventionen, etwa für Vieh, immer wieder befürwortet, wenn sie der Branche dienten. An der letzten Neujahrsmedienkonferenz stellte der SBV dann seine eigene Definition von Ernährungssouveränität vor. Darin geht es unter anderem um das Bewahren des heutigen Selbstversorgungsgrads, die Förderung der Qualitätsproduktion und den Schutz des Kulturlandes. Kein Wort über Exportpolitik – genauso wenig in der Initiative Bourgeois.
Überschüsse vermeiden
Der ursprünglichen Definition von Ernährungssouveränität verpflichtet fühlt sich dagegen die bäuerliche Gewerkschaft Uniterre, die in der Westschweiz und seit kurzem auch in den Regionen Basel und Zürich aktiv ist. Alles andere wäre auch erstaunlich: Schliesslich ist Uniterre Mitglied von Via Campesina.
Die Gewerkschaft plant eine Volksinitiative, die die Ernährungssouveränität in der Verfassung verankern soll. «Dann wird auch der Bauernverband Farbe bekennen müssen», sagt Uniterre-Sekretär Rudi Berli. Im Entwurf der Initiative steht unter anderem, der Bund solle die Schaffung von Arbeitsplätzen in der Landwirtschaft fördern – heute geschieht mit der Förderung des Strukturwandels das Gegenteil. Uniterre fordert auch besseren Schutz für landwirtschaftliche Angestellte.
Der Bund soll weiterhin Importzölle erheben können und ausserdem das Recht haben, den Import von Nahrungsmitteln zu verbieten, die den Sozial-, Ökologie- und Tierschutzstandards der Schweiz widersprechen. Die Branchenverbände sollen Produktionsmengen festlegen – um Überschüsse wie bei der Milch zu vermeiden.
All das widerspricht jedoch der Politik des Bundes, der ein Freihandelsabkommen mit der EU anstrebt und statt Mengensteuerung den «freien Markt» propagiert. Berli lässt sich davon nicht entmutigen: «Wir brauchen eine neue Vision in der Ernährungspolitik. Die jetzige Richtung – industrielle Produktion mit ein paar ökologischen Nischen – kann es nicht sein.»