SchauspielerInnen: «Die Ausbildung und der Berufsalltag sind zwei Paar Schuhe»
Sie hatten denselben Traum: Schauspielerin oder Schauspieler werden. Während vier Jahren besuchten sechs Frauen und sechs Männer gemeinsam die Schauspielschule Bern und schlossen ihre Ausbildung 2001 ab. Was machen diese Menschen heute? Und was ist aus ihrem Traum geworden?
Sie hatte es geschaft: Meine Schwester Martina war eine von zwölf glücklichen jungen Frauen und Männern, die 1997 an der Schauspielschule Bern aufgenommen wurden. Die Freude war riesig. Es folgten vier intensive Jahre. Martina beschäftigte sich viel mit sich selber. Sie begann, sich anders zu bewegen und veränderte ihre Mimik und die Art, wie sie redete. Das einzige soziale Umfeld meiner Schwester schienen ihre elf KlassenkameradInnen zu sein. Für Aussenstehende wirkte die Klasse wie ein geschlossener Kreis von Auserwählten.
Heute, zwölf Jahre nach ihrem Abschluss, sitzt Martina in einem Restaurant in Bern. Sie nippt an ihrem Tee und sagt: «Ich wollte eigene Theaterprojekte realisieren. Das hat mich am Beruf der Schauspielerin gereizt. Ausserdem kam bei der Ausbildung viel zusammen, was mich noch heute interessiert: das Eintauchen in andere Lebenswelten, die analytische Auseinandersetzung mit der Theaterliteratur, der körperliche Einsatz, die Musik.»
Doch schon während der Ausbildung begannen die Zweifel, der Berufsalltag schreckte sie ab: «Wenn du an einem Theater angestellt bist, hast du einen Tagesplan, der fremdbestimmt ist, und musst dich zu jeder Zeit mit Leib und Seele zur Verfügung stellen.» Sie merkte, dass das nichts für sie war. Nach ein paar Jahren als freischaffende Schauspielerin – unter anderem mit dem von ihr mitbegründeten A-cappella-Ensemble Zapzarap – begann sie ein Germanistikstudium.
Heute lebt meine Schwester in Wien. Die 39-Jährige ist an der Universität am Institut für Germanistik angestellt, hält Lehrveranstaltungen ab, forscht und schreibt eine Dissertation zur Wissensgeschichte der charismatischen Herrschaft.
Hinter statt auf der Bühne
Katalin Liptak besuchte die gleiche Klasse wie meine Schwester. «In der Nähe und Intimität hat man mit allen der Klasse eigentlich eine Beziehung geführt. Du hast die Hände und Füsse von allen gekannt. Auch den Geruch. Manchmal war das fast zu nah. Ich hatte mir ja die Leute nicht selber ausgesucht», erinnert sie sich an die intensive Zeit. «Ich habe die Ausbildung sehr genossen, wir lernten Dinge, die wir fürs Leben brauchen können. Doch die Ausbildung und der Berufsalltag sind zwei Paar Schuhe.»
Wie meine Schwester hat sich die Mutter zweier Mädchen nach ein paar Jahren als Schauspielerin in der freien Szene von der Bühne verabschiedet. Sie lebt in Zürich und arbeitet seit 2007 in der Organisation des Zürcher Theaterspektakels. «Vor und zu Beginn der Ausbildung war ich völlig überzeugt, dass ich Schauspielerin werden wollte und dass ich dafür zu jedem Opfer bereit sein würde», sagt die 37-Jährige, doch heute sei sie froh, dass sie hinter und nicht auf der Bühne arbeite. Sie sei zu wenig extrovertiert für diesen Beruf, meint sie. Und auch sie haben die prekären Arbeitsbedingungen abgeschreckt: «In Deutschland gibt es Theater, an denen du einen Antrag stellen musst, wenn du an deinem freien Tag die Stadt verlassen möchtest. Ich fand, das sei Leibeigenschaft.»
Viele SchauspielerInnen leben unter prekären Arbeitsbedingungen. Die Arbeitstage sind intensiv, die Arbeitszeiten unregelmässig und der Lohn tief. Der Richtlohn, den der Schweizer Berufsverband der Freien Theaterschaffenden angibt, liegt für durchschnittlich beschäftigte freie SchauspielerInnen bei einem Nettoeinkommen von 3200 Franken pro Monat. Als AngestellteR bei einem Theaterhaus verdient man häufig kaum mehr – besser bezahlt sind Auftritte in Film und Fernsehen.
Nach ein paar Jahren als SchauspielerIn wechseln viele den Beruf oder suchen sich eine zusätzliche Einnahmequelle. Dies ist auch bei den meisten ehemaligen MitschülerInnen von Martina und Katalin der Fall. Nach dem Studium hatten gut zwei Drittel der StudentInnen eine feste Anstellung an einem Theaterhaus. Bald dreizehn Jahre später ist keineR der zwölf mehr an einem grossen Haus fest angestellt. Zwar stehen noch neun regelmässig auf der Bühne oder spielen in Film- und Fernsehproduktionen mit, doch fast alle verdienen noch Geld mit zusätzlichen Arbeiten innerhalb oder ausserhalb des Theaterbereichs (vgl. «Ein sehr guter Jahrgang» im Anschluss an diesen Text).
So zum Beispiel Silvia-Maria Jung. Die Mutter eines fünfjährigen Sohns macht zurzeit den Spagat zwischen Familie und Schauspiel. Sie war nach der Schauspielausbildung in Bern mehrere Jahre am Stadttheater Bern fest angestellt. Heute arbeitet sie als freie Schauspielerin, Dozentin und Dramaturgin. «Ein Festengagement ist nur dann möglich, wenn man Grosseltern, Familie oder Freunde vor Ort hat, die die Kinderbetreuung übernehmen. Das habe ich nicht», sagt sie. Als freischaffende Schauspielerin nimmt sie zwei Projekte im Jahr an. Das bedeutet zweimal sechs bis acht Wochen Proben. «Die Vorstellungen sind nicht das Problem. Es ist die Probezeit, in der man sich rund um die Uhr extrem gut organisieren muss.» Doch sie will sich nicht beklagen. Ihr Traum während der Ausbildung sei gewesen, als Schauspielerin leben zu können und trotzdem Familie zu haben: «Dieser Traum hat sich erfüllt.»
Mehr Männer- als Frauenrollen
Einer, der seit dem Abschluss der Schauspielschule vom Schauspielerdasein lebt, ist Manuel Löwensberg. Zurzeit ist er guter Dinge: «Im Moment kässelets und macht Spass», lacht er. Dieser Tage ist der 37-Jährige in «Der Bestatter – Gespenster» als Wasserleiche zu sehen, ausserdem hat er bis im Herbst 2014 Theaterengagements. Doch nicht immer lief es so gut. Vor eineinhalb Jahren wollte er eine Ausbildung zum Primarlehrer machen: «Ich wollte mir eine bürgerliche Sicherheit schaffen und nicht völlig abhängig sein vom Schauspiel. Doch aus irgendeinem Grund haben sie mich nicht gewollt an der Schule, diese Schlufis.» Seit dieser Absage habe er sich voll und ganz dazu bekannt, Schauspieler zu sein: «Auch wenn es mir natürlich manchmal Angst macht, mich bis siebzig von Angebot zu Angebot durchzuhangeln.»
Mittlerweile kann er sich durchaus wieder eine Festanstellung vorstellen. Eine solche hatte er direkt nach der Schauspielschule. Er arbeitete drei Jahre am Stadttheater St. Gallen, daneben spielte er in der Fernsehserie «Lüthi und Blanc» mit: «Die Arbeit beim Film und beim Fernsehen ist für uns Schauspieler unglaublich wichtig, um Geld zu verdienen. Die Drehs sind Geldesel.» Als er die Schauspielschule machte, träumte er davon, eines Tages auf grossen Bühnen zu stehen: «Am liebsten in Berlin, Hamburg oder Wien.» Für das Schaffen beim Film sei er nicht vorbereitet gewesen. Er zögerte lange, als die Anfrage von «Lüthi und Blanc» kam, weil diese Arbeit nicht seiner Vorstellung vom Schauspielerdasein entsprochen hatte: «Heute bin ich viel offener und zu viel mehr bereit – wenn es gut bezahlt ist.»
Nach drei Jahren Stadttheater St. Gallen kündigte Manuel die Festanstellung – «Um aus der Rolle des Anfängers herauszukommen» – und ging als arbeitsloser Schauspieler nach Zürich. Hier versuchte er, neu Fuss zu fassen. Doch die Angebote blieben lange aus. «Es wird immer wieder solche Lücken und Durststrecken geben», ist er überzeugt. Trotz der schwierigen Arbeitsbedingungen und des Nomadenlebens, das er führt, mag er seine Arbeit ungemein: «Ich muss jedes Mal ohne Vergangenheit und ohne Zukunft auf der Bühne bereit sein, alles zu geben. Dadurch bin ich immer damit konfrontiert, in der Gegenwart anzukommen.»
Laut dem Forschungsbericht «Alter, Geschlecht und Beschäftigung von darbietenden Künstlerinnen und Künstlern in Europa», den der internationale Schauspielerverband 2009 herausgab, gibt es einen signifikanten Unterschied zwischen Frauen und Männern hinsichtlich der Karrieredauer: Frauen steigen tendenziell viel früher aus dem Beruf aus als ihre männlichen Berufskollegen. Ein Grund sind neben anderen die Rollenmöglichkeiten: In der klassischen Theaterliteratur gibt es viel mehr Männerrollen als Frauenrollen – viele der befragten Frauen im Forschungsbericht wünschen sich denn auch mehr Frauenrollen in den zeitgenössischen Stücken. Ausserdem sind die meisten Frauenrollen für junge Frauen geschrieben, und auch auf der Leinwand sind vor allem junge, gut aussehende Frauen gefragt. Deswegen verschwinden Frauen ab vierzig von der Bühne und aus Film und Fernsehen, mit sechzig Jahren treten sie als Grossmütter wieder auf. So sehen denn auch siebzig Prozent der befragten Frauen das Älterwerden als einen Nachteil in ihrem Beruf, bei Männern sind es lediglich fünfzehn Prozent. Die Hälfte der Männer sieht das Älterwerden sogar als Vorteil – bei den Frauen sehen das nur elf Prozent so.
Die Chance nicht genutzt
Wie wichtig für eine Schauspielerin das Aussehen ist, wurde Katalin Liptak während ihrer Ausbildung so richtig bewusst, als sie an einer Produktion im Stadttheater mitspielte: «Viele der älteren Schauspielerinnen beschäftigten sich dauernd mit dem Aussehen. Da dachte ich, in diesem Alter möchte ich gerne woanders stehen.» Das war einer der ersten Momente, in denen Katalin mit ihrer Berufswahl zu hadern begann. Denn lange galt sie als Vorzeigestudentin der Klasse. Bereits im zweiten Schuljahr erhielt sie ein Angebot für eine Hauptrolle in einem Schweizer Film. Die Schulleitung erlaubte es ihr jedoch nicht, die Rolle anzunehmen. «Das war schon seltsam. Sie meinten, ich sei noch zu wenig gefestigt, um dieses Angebot anzunehmen, und ich wehrte mich gar nicht dagegen.»
Nach ihrem Diplom 2001 hätte Katalin an zwei Theatern vorsprechen können. Doch sie sagte ab. «Ich wusste, dass ich nicht an einem Staatstheater arbeiten will.» Da erhielt sie einen Anruf von der Schulleiterin, die ihr ins Gewissen redete, diese Chance zu nutzen. Doch Katalin liess sich nicht umstimmen. Sie zog nach Zürich, arbeitete in einer Bibliothek und während ein paar Jahren als freischaffende Schauspielerin in Film und Theater und als Theaterpädagogin. Mit 31 hörte sie damit ganz auf: «Als Schauspielerin bist du sehr oft einfach nur ausführend, das hat mich unterfordert. Doch ab und zu drehen, das würde mir unterdessen wieder gefallen.»
Auch meine Schwester Martina kennt das Gefühl, die Chance nicht genutzt zu haben und sich deshalb rechtfertigen zu müssen: «Ich fühlte mich eine Zeit lang als Verräterin. Weil ich meinen Traum weggeschmissen hatte, nachdem er Realität geworden war.» Sie empfand ihr Leben als gebrochene Biografie. Heute sieht sie das nicht mehr negativ, sondern anerkennt ihre Ausbildung als wertvolle Erfahrung für ihren jetzigen Beruf. Denn es gibt viele Gemeinsamkeiten. Zwar arbeitet sie als Wissenschaftlerin häufig im stillen Kämmerlein, doch: «Bei beiden Jobs arbeitet man unter prekären Umständen für wenig Lohn, reist den Stellen hinterher – kommt dadurch aber auch an tolle Orte. Für beide Berufe braucht man einen enormen Wissensdurst und ein riesiges Mitteilungsbedürfnis.» Und in beiden Berufen sieht sie sich als Botin: «Was mich interessiert: Stoffe, die mich faszinieren, möglichst intelligent und attraktiv vermitteln.» Davon hat sie als Schauspielerin geträumt, und das macht sie nun als Dozentin, Autorin und Wissenschaftlerin.
«Ein sehr guter Jahrgang»
«Wir waren eine super Klasse», erinnert sich Mona Petri. Die in Zürich lebende Film- und Theaterschauspielerin ist eine der sechs Frauen und sechs Männer, die von 1997 bis 2001 gemeinsam die Schauspielschule Bern besuchten (vgl. Haupttext). Heute arbeitet sie als freischaffende Schauspielerin sowie als Pflegehelferin. Zwei Berufe, die, wie sie findet, sich gegenseitig sehr befruchten.
Auch Daniel Mezger hat ein zweites Standbein gefunden. Er ist Autor und hat mit «Land spielen» einen viel beachteten Roman geschrieben. Er spielt noch ab und zu in Filmen, doch wenn er auf einer Bühne steht, dann als Vorleser oder Musiker: «Schauspiel kann ein durchaus langweiliger Beruf sein. Man ist ein Rädchen in einer grossen Maschine und davon abhängig, dass spannende Menschen etwas Spannendes mit einem vorhaben.» Beim Schreiben geniesse er es, «sein Ding» zu machen. Aber er wolle die beiden Berufe nicht gegeneinander ausspielen. Auch Theo Plakoudakis lebt vom Schreiben und vom Schauspiel: Mit einem ehemaligen Schulkollegen verfasst er Drehbücher. Ein weiteres Standbein von anderen ist die Theaterpädagogik.
Die ehemalige Lehrerin Manuela Trapp kann sich noch gut an die Klasse erinnern: «Es war ein sehr guter Jahrgang», sagt Trapp, die noch immer an der Hochschule der Künste Bern angestellt ist. «Die Klasse war sehr heterogen. Viele starke Persönlichkeiten und unterschiedlichste starke künstlerische Begabungen haben sich gut ergänzt.» Dass gut zwei Drittel der Klasse nach Abschluss der Schule eine Festanstellung fanden, sei ein sehr guter Schnitt: «Heute, dreizehn Jahre später, ist die Joblage prekärer.»