Justiz: Die bestrafte Weltanschauung

Nr. 5 –

Der militante Ökoaktivist Marco Camenisch hat seinen jüngsten Hungerstreik beendet. Ob er seine volle Strafe absitzen muss oder vorher bedingt entlassen wird, beurteilt die kantonale Strafvollstreckungsbehörde.

Spätestens in vier Jahren, im Mai 2018, wird Marco Camenisch entlassen werden. Unbedingt. Fast die Hälfte seines Lebens wird der heute 62-jährige Ökoaktivist dann hinter Gittern verbracht haben. Am 7. Mai 2012 hatte er zwei Drittel seiner aktuellen Strafe abgesessen. Seither ist er aufgrund seiner Weltanschauung inhaftiert. Das bescheinigt ihm sogar die Zürcher Justiz. Sie hat bis dato alle Anträge auf eine bedingte Entlassung, die sein Anwalt Bernard Rambert eingereicht hat, mit genau dieser Begründung abgelehnt. Camenisch verfüge nach wie vor über eine delinquenzfördernde Weltanschauung und befürworte Gewaltanwendung, um seine politisch-ideologischen Ziele zu erreichen. Er sei also noch immer gefährlich, und es seien keine Hafterleichterungen zu gewähren.

Camenisch befand sich seit dem 30. Dezember 2013 im Hungerstreik, den er am 26. Januar beendete. Er protestierte damit gegen die Gefängnisleitung, die ihn wegen einer verweigerten Urinprobe mit Arrest bestraft und ihm für sechs Monate den Computer entzogen hatte.

Bedingte Entlassung wird geprüft

Wann eine bedingte Freilassung möglich ist, regelt Artikel 86 des Schweizerischen Strafgesetzbuchs (StGB). Dieser gibt der kantonalen Strafvollstreckungsbehörde die Möglichkeit, Häftlinge bedingt zu entlassen, wenn zwei Drittel der Strafe verbüsst sind, sie sich im Strafvollzug problemlos verhalten haben und anzunehmen ist, dass sie künftig keine Delikte mehr begehen werden.

Zwei der drei Voraussetzungen für eine bedingte Entlassung erfüllt Camenisch. Er hat zwei Drittel der Haftzeit verbüsst. Und Leitung sowie Personal der Justizvollzugsanstalt Lenzburg, wo er seit Januar 2011 einsitzt, beschreiben den Bündner in ihren Führungsberichten als umgänglich, anständig und hilfsbereit. Er halte sich an die Hausordnung und befolge die Anweisungen des Sicherheitspersonals ohne Widerrede. In der Korberei arbeite er sorgfältig, zuverlässig und selbstständig und unterstütze immer wieder ungeübte, neue Mitgefangene.

Nun kommt das dritte Kriterium ins Spiel. Die Prognose einer künftigen Delinquenz.

Das Zürcher Amt für Justizvollzug hatte zuletzt vor einem Jahr die bedingte Entlassung abgelehnt. In einer 2009 vorgenommenen Gefährlichkeitsbeurteilung kam es zum Schluss, dass eine hohe Rückfallgefahr bestehe. Man sieht dort Camenisch nach wie vor als Ökoterroristen, «der auch künftig Tötungsdelikte, schwere Körperverletzung und Sprengstoffanschläge in Kauf nehmen wird», um seine Ziele zu erreichen. Deshalb müsse er seine Strafe vollumfänglich, bis Mai 2018, absitzen.

Marco Camenisch hielt bereits 2002 in einer Erklärung fest, dass er wegen seines fortgeschrittenen Alters, seiner angeschlagenen Gesundheit und aufgrund seiner sozialen Verantwortung für sich persönlich von einer Wiederaufnahme des bewaffneten Kampfs absehe. Sein Anwalt Rambert führt des Weiteren an, dass Camenisch im Fall einer bedingten Freilassung über ein reintegrationsförderndes soziales Umfeld verfüge. Eine Anstellung als Lagerist sei zugesichert, und auch für eine Wohnmöglichkeit sei gesorgt. Deswegen könne eine gute Prognose gestellt werden, sein Mandant sei in den bedingten Strafvollzug zu versetzen.

Momentan ist beim Bundesgericht eine Beschwerde gegen die nicht gewährte bedingte Entlassung aus der Haft hängig. Wird sie gutgeheissen, muss die Vorinstanz, das kantonale Verwaltungsgericht, Camenischs Antrag auf bedingte Entlassung nochmals neu prüfen. Anwalt Rambert rechnet in den nächsten zwei bis drei Monaten mit einem Entscheid.

Eine Frage der Prognose

Für Jonas Weber, Professor für Strafrecht und Kriminologie an der Universität Bern, ist die Frage der «Legalbewährung» massgebend: «Wenn ein Verurteilter aus politischer Überzeugung Straftaten begangen hat, spricht das Festhalten an dieser Überzeugung prima vista gegen eine gute Prognose.» Zu prüfen sei allerdings, ob dieser zwar nach wie vor an den Inhalten festhalte, die Verübung von Straftaten aber nicht mehr als Mittel zur Erreichung seiner politischen Ziele sehe. Gemäss Strafvollzugsexperte Weber reiche das für eine positive Legalprognose. Immer unter der Voraussetzung, dass der Verurteilte andere Personen, die seine politische Überzeugung teilen, nicht zu Straftaten motiviere oder bei solchen aktiv unterstütze.

Wird Marco Camenisch also die restlichen vier Jahre absitzen müssen? Jonas Weber hält es für möglich, dass Camenisch vorzeitig freigelassen wird. Dieser Meinung sind auch andere befragte Rechtsexperten, die sich allerdings nicht namentlich zitieren lassen wollen. Eine vorzeitige, bedingte Entlassung gäbe den Zürcher Justizbehörden die Möglichkeit, Bewährungsauflagen zu machen, argumentiert der Berner Professor. Durch die mit einer Entlassung einhergehende Probezeit entstünde für Camenisch ein grösserer Druck, sich rechtskonform zu verhalten.

Marco Camenisch

Der Bündner Marco Camenisch (62) ist seit den siebziger Jahren ein militanter Gegner der Atomenergie.

Er sitzt seit 23 Jahren im Gefängnis, verurteilt unter anderem wegen Sprengstoffanschlägen auf Hochspannungsmasten und wegen der Erschiessung eines Grenzwachbeamten. Camenisch ist in der Strafanstalt Lenzburg inhaftiert.