Strafe in der Strafe: Gefangene haben wenig Möglichkeiten, ihre Rechte einzufordern.
In der Werkstatt der Justizvollzugsanstalt Bostadel bei Menzingen im Kanton Zug eskaliert ein Streit zwischen zwei Gefangenen. Einer von ihnen ist der Basler Kushtrim R. Er sitzt an seinem Arbeitsplatz, als ein Mann von hinten mit einem Hocker auf ihn losgeht. Es geht um Geld für Zigaretten. R. wehrt sich, stösst den Angreifer von sich. Es kommt zur Rangelei. Ein Aufseher geht dazwischen – und bestraft am Schluss beide.
Zelleneinschluss für drei Tage wegen «Tätlichkeit gegenüber Mitgefangenen», steht in der Verfügung, die R. in die Hand gedrückt bekommt. Es ist ein Vorgang, der sich so oder so ähnlich täglich in Schweizer Gefängnissen abspielt. Für R. sind die Tage, die er allein in seiner Zelle verbringen muss, eine Strafe in der Strafe: kein Kontakt zu anderen Menschen, keine Beschäftigung, nur eine Stunde Hofgang pro Tag, allein. «Dabei war ich der, der angegriffen wurde», sagt er eineinhalb Jahre später. Kushtrim R. wünscht, dass sein Nachname abgekürzt wird. Er sitzt eine mehrjährige Freiheitsstrafe ab wegen versuchter vorsätzlicher Tötung sowie Sachbeschädigung, Verkehrs- und weiteren leichten Delikten. Zudem wird er, da er keinen Schweizer Pass besitzt, das Land nach der Haft für zehn Jahre verlassen müssen – obwohl er hier geboren wurde.
Gegen den seiner Meinung nach ungerechtfertigten Zelleneinschluss will R. sich wehren. Aber wie? Im Strafverfahren bekommt ein mittelloser Beschuldigter kostenlos einen Anwalt oder eine Anwältin zur Seite gestellt, und er kann seine Sicht der Dinge einbringen. Es gilt: im Zweifel für den Angeklagten. Sobald der Vollzug der Strafe beginnt, gelten andere Regeln: Ab da stehen Gefangene allein da. Die einweisenden Behörden – im Fall von Kushtrim R. die Strafvollzugsbehörde Basel-Stadt – entscheiden, ob jemand in Einzelhaft untergebracht oder in ein anderes Gefängnis verlegt wird und wer schon nach zwei Dritteln der verbüssten Strafe auf Bewährung freikommt.
Verurteilte haben keinen Anspruch auf juristische Vertretung, obwohl sie im Gefängnis zusätzlich zur Haftstrafe täglich bestraft werden können: Wer abends nicht pünktlich zum Einschluss in seiner Zelle sitzt oder bei der Arbeit die falschen Schuhe trägt, kann diszipliniert werden – etwa mit einer Geldbusse, mit Besuchsverbot oder Arrest. Über viele dieser Eingriffe, die oft strafenden Charakter haben, entscheiden Beamt:innen. Kein Gericht muss sie absegnen. Verhandelt wird darüber nur, wenn Gefangene sich juristisch wehren. Doch das ist nicht einfach.
Hohe Kosten, geringe Chancen
R. fühlte sich im Gefängnis Bostadel schon vor dem Zelleneinschluss ungerecht behandelt. Bis kurz davor hatte er sechs Monate in Einzelhaft verbracht. Die Einsamkeit kennt er schon. «Wenn du im Kopf schwach bist, brichst du. Dann gehst du aus dem Gefängnis direkt in die Psychiatrie», sagt er über die Zeit in der Einzelzelle. In diese war R. verlegt worden, weil ein Anstaltspsychiater ihn für gefährlich hielt. Insbesondere sein angeblich drohendes Auftreten und sein «Aggressionspotenzial», so der Psychiater, gefährdeten die Anstaltssicherheit. Zudem lege er ein «forderndes, uneinsichtiges» Verhalten an den Tag, habe sich nicht ans Rauchverbot gehalten und die Arbeit verweigert.
Schon damals setzte sich R. zur Wehr und schrieb eine Beschwerde – die abgewiesen wurde. Er zog sie weiter bis ans Appellationsgericht. Dieses gab ihm teilweise recht: Im Urteil steht, dass R. zwar ein unkooperativer Gefangener sei, die Akten aber nicht belegten, dass er «ein untragbares Risiko für Mitgefangene und das Personal» bedeute, weshalb die Einzelhaft nicht gerechtfertigt sei. Für Drohungen gebe es keine Indizien. Für R. ist das Urteil eigentlich ein Erfolg. Doch fühlt es sich nicht so an: Als es endlich gefällt wird, hat er schon sechs Monate Einzelhaft abgesessen. Eine Entschädigung oder Entschuldigung gibt es nicht.
Dass R. den Weg ans Gericht überhaupt geschafft hat, ist nicht selbstverständlich. Die Hürden sind hoch. Zunächst einmal fehlt Gefangenen oft der Zugang zu juristischem Fachwissen. Viele Gefängnisse weisen die Inhaftierten auf die kostenlose Hotline der NGO humanrights.ch hin. «Doch das reicht nicht», sagt David Mühlemann, der die Beratungshotline mitgegründet hat und zurzeit an der Universität Bern über den Zugang zum Recht für Gefangene promoviert. Unabhängige Organisationen wie humanrights.ch, so Mühlemann, müssten finanziell stärker unterstützt werden, um ihrer Funktion gerecht werden zu können: «Millionen von Franken werden in Sicherheitsmassnahmen investiert. Die Gefangenen haben aber kaum Möglichkeiten, sich über ihre Rechte zu informieren und sich beraten zu lassen. Das ist nicht nachvollziehbar.» Besonders nötig sei die Beratung bei grundrechtssensiblen Eingriffen wie etwa bei Einzelhaft.
Die nächste Hürde für Gefangene: Wer für eine Beschwerde eine Anwältin oder einen Anwalt beauftragt, muss die Kosten selbst tragen oder darauf hoffen, dass der Staat sie übernimmt. Letzteres ist mehr Ausnahme als Regel, wie mehrere Verteidiger:innen bestätigen. Ämter und Gerichte begründen das meist damit, dass die Beschwerde eh aussichtslos sei. Das ist mit ein Grund, weshalb viele Strafgefangene keine Rechtsvertretung haben. Daten dazu gibt es kaum. Eine Ausnahme ist Basel-Stadt, wo etwa zwanzig Prozent der Menschen im Straf- und Massnahmenvollzug rechtlich vertreten werden.
Sich im Gefängnis zu wehren, kann weitere Nachteile nach sich ziehen. Mühlemann weiss von Gefangenen, die in ein anderes Gefängnis verlegt wurden, weil sie sich nach Ansicht der Gefängnisleitung zu oft beschwert hatten: «Indem rechtlicher Widerstand bestraft und gefügiges Verhalten belohnt wird, werden Abhängigkeiten verstärkt – anstatt dass Autonomie und Entscheidungsfähigkeit gefördert werden.» Dadurch werde das Gegenteil dessen erreicht, was der Resozialisierungsauftrag vorgebe.
Hinzu komme: «Nur ein kleiner Teil der Entscheide der Gefängnisleitungen wird von der Verwaltung überprüft. Noch weniger gelangen bis ans Gericht.» Die Dunkelziffer jener Fälle, in denen eine Justizvollzugsinstitution eine rechtlich fragwürdige Entscheidung fällt, ohne dass diese jemals gerichtlich überprüft wird, dürfte daher hoch sein. «Das Recht ist das Einzige, was Gefangene in dieser Machtbeziehung mit dem Staat schützen kann», sagt Mühlemann. Es reiche nicht, wenn sie rein formell die Möglichkeit hätten, sich zu beschweren. Viele würden ihre Rechte nicht kennen; sie hätten weder das Gefühl, ihnen stünden Rechte zu, noch das Vertrauen, das Rechtssystem könnte ihnen dienen. Notwendig sei deshalb eine umfassende Strategie, um den Zugang zum Recht für Gefangene zu stärken. So fordert die Rechtswissenschaftlerin Noémi Biro in ihrem Buch «Notwendige Verteidigung im Straf- und Massnahmenvollzug» (2019), dass Strafgefangene während der ganzen Zeit in Haft eine Verteidigung haben.
Der Gefangenenrat auf dem Thorberg
Die Direktorin der JVA Thorberg, Regine Schneeberger, empfängt in ihrem holzgetäfelten Büro im alten Schloss, das seit 1893 als Justizvollzugsanstalt dient. «Ich gehe mit allen neuen Gefangenen mittagessen und vermittle ihnen: Wenn es Probleme gibt, wird auf dem Thorberg zuerst geredet.» Rapporte wegen Arbeitsverweigerung zum Beispiel würden oft annulliert, weil man nach einem Gespräch mit dem Gefangenen verstanden habe, warum er nicht zur Arbeit erschienen sei. So könnten als ungerecht empfundene Disziplinierungen verhindert werden.
Schneeberger sieht es aber als Chance, wenn Gefangene sich wehren. «Erfolgreiche Beschwerden helfen uns, uns zu verbessern.» Sie sagt aber auch: Dass sich Häftlinge vom Gefängnis oft ungerecht behandelt fühlten, liege nicht immer an den Umständen, sondern auch an der jeweiligen Persönlichkeitsstruktur. «Manche Gefangene finden es gerechtfertigt, einen Konflikt mit der Faust zu lösen, und sehen nicht ein, warum sie dafür bestraft werden.» Auch gebe es Personen, die mit ständigen Beschwerden den Gefängnisbetrieb lahmzulegen versuchten. Positiv hebt Schneeberger die Zusammenarbeit mit dem Thorberger Gefangenenrat hervor. Dessen Mitspracherecht ist zwar beschränkt; immerhin aber konnte er durchsetzen, dass Proteinpulver und Erotikhefte nicht mehr verboten sind.
Einen solchen Rat wünschten sich auch die Gefangenen der Freiburger Haftanstalt Bellechasse. Um ihrer Forderung Druck zu verleihen, streikten im Juni 2023 rund vierzig von ihnen. Die Gefängnisangestellten lösten diesen auf und disziplinierten alle Beteiligten wegen Arbeitsverweigerung mit Zelleneinschluss. Die Gefangenen arbeiteten dennoch einen Forderungskatalog aus, den sie der Gefängnisleitung überreichten. Sie schreiben darin von «zahlreichen Missständen, Behinderung von Rechten und Misshandlungen, die psychologische Folter darstellen». Und sie forderten, dass Gefangene Videocalls mit Angehörigen machen dürfen, die Gesundheitsversorgung gewährleistet wird und sich ein Gefangenenrat bilden darf. Diesen Katalog veröffentlichte später ein Verein, der die Interessen von Gefangenen und ihren Angehörigen vertritt.
Die Gefängnisadministration antwortete zwar auf das Schreiben, ergriff daraufhin aber auch rechtliche Schritte. Zum einen stellte sie einen Schlichtungsantrag, gerichtet an den Verein: Die unbegründeten Vorwürfe würden «die Persönlichkeit» der Freiburger Haftanstalt verletzen, weshalb der Forderungskatalog online gelöscht werden solle. Parallel zum Schlichtungsantrag reichte die Haftanstalt einen Strafantrag gegen Unbekannt wegen Verleumdung der JVA ein. Beide Verfahren sind noch hängig.
«Sie machen mit einem eh, was sie wollen»
Im Gefängnis Bostadel sitzt Kushtrim R. nach dem Angriff in der Werkstatt wieder allein in seiner Zelle. Zu den drei Tagen Disziplinarmassnahme kommen zusätzlich fünf Tage Zelleneinschluss wegen Sicherheitsbedenken. Danach soll R. in eine andere Anstalt verlegt werden. Zusammen mit seiner Anwältin beschliesst er, erneut Beschwerde einzureichen, dieses Mal gegen den Zelleneinschluss.
Die Paritätische Kommission, bestehend aus Justizbeamt:innen Basel-Stadt und Zug, findet abermals: Das Vorgehen der Mitarbeitenden sei gerechtfertigt gewesen. R. zieht erneut vor Gericht. Obwohl das Amt auf seinem Standpunkt beharrt, geben die Richter:innen R. ein zweites Mal teilweise recht. Sie halten in ihrem Urteil fest, R. habe in der Auseinandersetzung in Notwehr gehandelt und hätte daher nicht diszipliniert werden dürfen. Doch seine Forderung nach einer Entschädigung wird erneut abgewiesen. Auf Anfrage teilt der Straf- und Massnahmenvollzug Basel-Stadt mit, solche Gerichtsurteile würden «sorgfältig analysiert». Jedoch habe keines der Urteile zum Fall von Kushtrim R. zu einer Praxisänderung geführt.
In R.s Beschwerdeverfahren liegen die Entscheide mittlerweile schriftlich vor. Heute ist er im Normalvollzug der JVA Lenzburg untergebracht. Das Gefühl, vom Gefängnis schikaniert worden zu sein, hält aber an. «Die Beschwerden haben sich überhaupt nicht gelohnt, auch wenn ich gewonnen habe», sagt er an einem Morgen im Juni im Besuchsraum. Es habe sich für ihn nichts zum Positiven verändert. «Sie machen im Gefängnis mit einem sowieso, was sie wollen.» Die verbleibenden zwei Jahre wolle er absitzen, ohne sich zu beschweren, um möglichst schnell seine Tochter sehen zu können. Dann muss Kushtrim R. die Schweiz verlassen.