«Alphabet»: Denn nicht für die Schule lernen wir

Nr. 8 –

In seinem neuen Dokumentarfilm nimmt Erwin Wagenhofer das Schulsystem ins Visier. Das Resultat ist so tiefschürfend wie ein gestickter Sinnspruch auf dem Sofakissen.

Mittels Drill zur Auszeichnung: Der beste Rechner von ganz China. Still aus «Alphabet»

Wir kommen alle hochbegabt zur Welt. Doch wir nutzen nur zehn Prozent unseres Gehirns. Dabei könnten wir daraus so viel Potenzial entfalten … Um es gleich vorwegzunehmen: «Alphabet» wirbt nicht für Scientology. Aber man wähnt sich trotzdem im falschen Film.

Mit seinen letzten beiden Dokumentarfilmen über die globalisierte Nahrungsmittelindustrie («We Feed the World», 2005) und das weltweite Finanzsystem («Let’s Make Money», 2008) hat der österreichische Filmemacher Erwin Wagenhofer Furore gemacht. Als abschliessenden Teil der Trilogie zur grossen Frage, warum unsere Welt aus dem Ruder läuft, nimmt er sich jetzt das Thema Bildung respektive Schule vor. Die Stilmittel sind ähnlich: wechselnde Schauplätze und ProtagonistInnen auf der ganzen Welt – die Reise geht erst nach China und macht dann in verschiedenen Ländern Europas Station. Und auch in «Alphabet» bringt es Wagenhofer fertig, dass sich die Akteure vor der Kamera selbst entlarven. Bloss verkehrt sich diesmal die Intention des Filmemachers dadurch ins Gegenteil.

Wahre Erziehungskunst

Die Kritik ist nicht neu: Bildung orientiert sich immer mehr an einer reinen Verwertbarkeitslogik – alles wird den Prinzipien von Wettbewerb und Leistung unterworfen. Sinnbildlich dafür stehen die Pisa-Studien der OECD, die weltweit Schulleistungen vergleichen. Seit Jahren führt China die Pisa-Rankings an. Und die Statistiken über Selbstmordraten bei Jugendlichen. Eine statistische Koinzidenz, die Wagenhofer mit Bildern zu untermalen sucht: Massen von Kindern in Uniform strömen mit dem Fahrrad durch das Tor in die Schule, als würden sie die Frühschicht in der Fabrik antreten. Wie Roboter sitzen sie in streng geometrischer Anordnung still und emsig in den Schulbankreihen. Für die Mathematikolympiade wird ein Schüler individuell gedrillt bis zur Erschöpfung. Zu Hause wird er mit den gewonnenen Medaillen behängt und dem Filmemacher vorgeführt.

Rasch gehts nach Europa in den deutschsprachigen Raum, wo Erwin Wagenhofers KronzeugInnen nicht müde werden zu betonen, auch hier betrachte man die Schule noch immer als militärisch-industrielle Normierungsanstalt. «‹Unterrichten› kommt von ‹richten› und meint ‹geradebiegen›», verkündet Thomas Sattelberger, ehemaliger CEO verschiedener namhafter deutscher Konzerne. Während der Hirnforscher Gerald Hüther vom kreativen Potenzial des kindlichen Gehirns schwärmt, das in der Schule systematisch zerstört werde.

Weder Thomas Sattelberger noch Gerald Hüther verfügen über vertieftes pädagogisches Fachwissen – abgesehen davon, dass auch sie irgendwann die Schulbank gedrückt haben. Hüther präsentiert sich in der Öffentlichkeit gern als «neurobiologischen Präventionsforscher» – der Begriff ist eine kreative Eigenschöpfung –, der seine Erkenntnisse aus Experimenten an Rattenhirnen in Schule und Bildung praktisch umsetzen will. Die «Zeit» hat ihn unlängst zum «umtriebigsten Bildungsguru» und «fahrenden Wunderdoktor» gekürt. Er tourt regelmässig durch Vortragssäle und Fernsehstudios in Deutschland und begeistert sein Publikum mit Thesen über wahre «Erziehungskunst».

Esoterik statt Analyse

Etwa, dass sich der Mensch nur selber bilden könne und dass man ihn dazu einladen, aber niemals zwingen könne. Oder dass praktisch jedes Kind das Rüstzeug habe, hochbegabt zu sein. Vorausgesetzt, es würde sich mit «Begeisterung und Leidenschaft» für etwas interessieren. Im Film gipfelt das in folgender Erkenntnis: «Man kann Kindern nichts beibringen, man muss sie einfach lassen.» Das taugt für einen gestickten Sinnspruch auf dem Sofakissen.

Nicht aber für den praktischen Erziehungsalltag. Weshalb Wagenhofer uns mit einem lebenden Beweis überzeugen will: einem begabten Kreativen, Musiker und Instrumentenbauer, der nie die Schule besucht hat und sich Lesen, Schreiben und Rechnen selbst beigebracht hat – immer seinen ureigensten Interessen und Antrieben folgend, wie er sagt. Sein Vater, Arno Stern, leitet seit Jahrzehnten einen sogenannten Malort, wo man, geschützt durch bunte Wände, malenderweise zu seinem innersten Fundament finden soll, das man mit dem Rest der Menschheit teilt.

Spätestens hier verliert sich der Film im Esoterischen. Sieht so die Alternative zum kritisierten Schulsystem aus?

Um die Probleme von morgen zu lösen, brauche es spielerische Kreativität, so die Botschaft von «Alphabet». Es wäre spannend gewesen, hätte Wagenhofer seinen Blick erweitert und auf andere alternative Bildungseinrichtungen gerichtet. Wie etwa Quest to Learn, kurz Q2L genannt: eine öffentliche Schule in New York für Mittel- und OberstufenschülerInnen, in der spielerisches Lernen mit digitalen Medien im Zentrum steht.

Doch scheint es dem Filmemacher letztlich nicht um eine vertiefte inhaltliche Auseinandersetzung mit der Schule und dem, was dort aktuell geschieht, zu gehen. Oder warum sonst kommen die Betroffenen selbst gar nie zu Wort?

Alphabet. Regie: Erwin Wagenhofer. Deutschland/Österreich 2013. Ab 20. Februar 2014 in 
den Kinos