Big Data: Auf Grund gelaufen

Nr. 40 –

Das «Human Brain Project» zeigt: Die Flagship-Initiative der EU beflügelte technototalitäre Fantasien statt realer Forschung.

Sang- und klanglos ist Ende September das Forschungsflaggschiff «Human Brain Project» im EU-Hafen vor Anker gegangen. Einst war es im Blitzlichtgewitter ausgelaufen, die Segel von einer Milliarde Euro an Forschungsgeldern und überhöhten Ambitionen gebläht: In nur einer Dekade, so versprach der schillernde Kapitän Henry Markram, würde er das menschliche Gehirn im Computer simulieren können; sein Modell besässe ein eigenes Bewusstsein und wäre fähig, Sprachen zu lernen und Krankheiten zu heilen.

In Fachkreisen waren die Wogen bereits im Vorfeld hochgegangen, weil Markram im Alleingang einen neurowissenschaftlichen Paradigmenwechsel verkündete und damit sämtliche Kognitionsforscher:innen desavouierte. Jene, die im Frühling 2013 trotzdem mit an Bord kamen, meuterten im Sommer darauf ein erstes Mal: Mit einem offenen Brief, unterzeichnet von an die 800 Wissenschaftler:innen, protestierten sie gegen den selbstherrlichen Kapitän, der unbeirrt am eigenen Kurs festhielt, die monetären Rationen zu seinen eigenen Gunsten verteilte und Besatzungsmitglieder, die andere Ansätze verfolgten, an Land aussetzte.

Im Frühling 2015 meuterte die Crew erneut, worauf die EU-Kommission ein 27-köpfiges Mediationsteam entsandte, das die Zustände an Bord durchleuchtete – und in der Folge nicht nur den Kapitän absetzte, sondern eine umfassende Kurskorrektur initiierte und dem Flaggschiff damit gleichsam die Segel strich. Fortan schipperte es als Infrastrukturprojekt dahin und warf keine grossen Wellen mehr.

Offiziell wird das «Human Brain Project» erst im November evaluiert, die Resultate sollen im Januar 2024 vorliegen. Doch bereits jetzt ist klar, dass die ursprünglichen Ziele nicht einmal ansatzweise erreicht werden konnten. Weniger als zwei Drittel der in Aussicht gestellten Forschungsgelder wurden überhaupt abgeholt, viele der Beteiligten sind frustriert. Bloss Mosaiksteinchen an neuen Erkenntnissen habe das Projekt gebracht, der wissenschaftliche Output sei bescheiden. Als zentrales Erbe bleibt «Ebrains», eine Plattform für virtuelle Hirnforschung. Allerdings ist der Fortbestand dieser digitalen Forschungsinfrastruktur noch längst nicht gesichert, hat die Europäische Kommission im März doch in einer ersten Runde die Weiterfinanzierung verweigert.

Bleibt die Frage: Wer trägt Schuld am eklatanten Misserfolg? Mit dem Finger auf Henry Markram zu zeigen, ist naheliegend. Bereits 2009 hat er in einem TED-Talk mit der Vision betört, bis in zehn Jahren werde er das Gehirn einer Ratte am Computer simulieren können, der Dokumentarfilmer Noah Hutton hat ihn während dieser Zeit begleitet. Entstanden ist mit «In Silico» (2020) ein Film über eine «messianische Figur», in dem sich alles um «Macht, Gier, Ego und Ruhm» drehe, wie eine Filmkritikerin urteilt. Auch der Filmemacher gibt sich in einem Interview selbstkritisch, er habe zu spät realisiert, dass er einem «sales pitch» aufgesessen sei.

Letztlich ist aber auch Markram auf eine Verkaufsmasche hereingefallen: auf die Flagship-Initiative der EU, die 2011 vollmundig ankündigte, Europa innerhalb von zehn Jahren an die Weltspitze der Informations- und Kommunikationstechnologie zu katapultieren. Ausgewählte Megaprojekte sollten «Wellen technologischer Innovationen generieren», die sich «ökonomisch ausbeuten» liessen. Big Words, die Big Money mit Big Data versprachen – und entsprechend technototalitäre Visionen, Projekte und Personen beförderten. Zu ihnen zählte nebst Henry Markram auch Dirk Helbing von der ETH, der auf der Basis des globalen Datenmeers gleich die ganze Welt simulieren wollte. Das von ihm mitkoordinierte Projekt «FuturICT» insistierte auf einem nicht minder anmas­senden Paradigmenwechsel: Sozialwissenschaftler:innen seien unfähig, gesellschaftliche Probleme zu lösen, weshalb jetzt Mathematiker und Informatikerinnen gefragt seien.

Als grundsätzliche Erkenntnis aus dem Scheitern des «Human Brain Project» bleibt, was breite Forschungskreise wiederholt betont haben: Das Gehirn ist zu komplex, als dass es mit einem einzigen konzep­tionellen Ansatz erforscht werden könnte – erst recht nicht mit einem, der gar keine Hypothesen dazu formuliert, wie das Gehirn funktionieren könnte, sondern es lediglich digital nachbilden will. Die megalomane Flagship-Initiative behinderte so letztlich Fortschritte in der Forschung, die sie eigentlich fördern wollte.

Dass hingegen kollaborative Projekte, die aus der Mitte der Forschungscommunity konzipiert sind, gerade in der Neuroforschung weiterführen, zeigt das Beispiel der US-amerikanischen «Brain Initiative», die zeitgleich mit dem «Human Brain Project» startete und sich seither als interdisziplinäres Forschungsprogramm etabliert hat. Übrigens, Ende September hat ein Neurobiologe des Paul-Scherrer-Instituts, das zum ETH-Bereich gehört, 2,6 Millionen US-Dollar von ebendieser «Brain Initiative» erhalten, um einen neuen Ansatz weiterzuentwickeln: für die umfassende Kartierung des Gehirns – von Mäusen.