Durch den Monat mit Alexander Gentelew (Teil 4): Möchten Sie wieder nach Russland zurück?
Der russisch-israelische Filmemacher Alexander Gentelew erzählt, wie er es als Immigrant vom Tellerwäscher zum Dokumentarfilmer brachte.
WOZ: Alexander Gentelew, weshalb haben Sie 1992 Russland verlassen und sind nach Israel ausgewandert?
Alexander Gentelew: Alle rannten davon, also rannte ich auch davon.
Ich erkläre es Ihnen: Ich wollte nie irgendwohin emigrieren. Ich bin Jude – das wusste ich von Kindesbeinen an –, aber ich bin kein Zionist. Ich wollte nicht ins Ausland, bin ich doch stupid und unfähig, Fremdsprachen zu lernen.
Es war eine Heidenarbeit, bis ich Hebräisch sprechen konnte! Doch zu Beginn der neunziger Jahre herrschten in Russland Gesetzlosigkeit und Banditentum. Man konnte die Kinder nicht aus dem Haus lassen, an jeder Häuserecke wurde geschossen. Ein Freund von mir wurde auf offener Strasse von einer Maschinengewehrsalve durchsiebt. Kurz zuvor hatte er mir noch gesagt, er wolle mir irgendwelche Materialien über einen Korruptionsfall zuspielen. Ich arbeitete damals in St. Petersburg bei einem Fernsehsender als Regisseur und Leiter der Jugendredaktion. Dann wurde ich auch überfallen. Sie haben mir die Fresse poliert, alle Zähne ausgeschlagen, einer stiess mit einer Ahle zu. Ich weiss nicht, ob es da einen Zusammenhang gab, doch für mich war klar: Jetzt fahren wir weg. Es war eine Migration aus Angst, wie bei vielen anderen auch.
Aufgrund des Rückkehrgesetzes erhielten Sie bei der Einreise automatisch die israelische Staatsbürgerschaft. Wie haben Sie sich in Israel zurechtgefunden?
Am vierten Tag fand ich eine Stelle als Tellerwäscher, ich musste ja irgendwie meine Familie ernähren. Israel hatte damals rund fünf Millionen Einwohner, und innert kürzester Zeit wanderte eine Million Juden aus der ehemaligen Sowjetunion ein. Keiner hatte einen Job oder eine Wohnung. Wir waren eine lustige Equipe beim Tellerwaschen: ich, ein Doktor der Physik, ein Arzt, ein Schauspieler und noch ein kleiner Schuljunge. Wir verdienten umgerechnet 1.50 Franken die Stunde und waren glücklich damit.
Nach der Arbeit ging ich jeweils in den Park, weniger, um frische Luft zu atmen, als um mein Hebräisch zu üben – mit dem Geschirr kann man ja nicht reden. Ich lebte in der Agglomeration von Tel Aviv, in einem Stadtbezirk, wo es viele orthodoxe Juden gab, die gerne mit einem plauderten. Einmal kam einer, so mit Kippa und Hut, und sagte: «Du siehst müde aus. Sorge dich nicht, bald findest du eine Stelle in deinem angestammten Beruf.» Und tatsächlich, ein Jahr nach meiner Ankunft rief mich einer an, der eine russischsprachige Sendung für die Migranten produzierte.
Bewegen Sie sich in Israel viel unter Russen?
Wegen ihrer schieren Zahl schon. Vor allem in den hoch qualifizierten Berufen gibt es in Israel viele Russen – Ingenieure in hochtechnologischen Unternehmen zum Beispiel oder Leute im Kulturbereich. Auch im Krankenhaus sprechen zahlreiche Ärzte und Krankenschwestern russisch. Natürlich habe ich hier auch viele Verwandte und Freunde, die zwar viel beschäftigt sind, mit denen ich mich aber ab und zu treffe, wir trinken dann Wodka und diskutieren.
Fühlen Sie sich als Russe oder als Israeli?
Ich fühle mich heute als Bürger Israels, doch das brauchte Jahre. Als Russe fühlte ich mich nie. Meine Eltern waren Juden, also war auch ich Jude. So ist das nun mal: Wäre ich als Chinese zur Welt gekommen, wäre ich Chinese. Die meisten meiner Filme spielen auch in Israel. Mein Lieblingsfilm aus meinen Arbeiten ist «Erste Geige und junge Talente». Er handelt von einer gefeierten Konzertviolinistin, die alles stehen und liegen liess, um den Kindern in den Vorstädten Tiberias’ das Geigenspielen zu lehren.
Was macht eigentlich einen guten Dokumentarfilm aus?
Man darf nicht lügen, nicht täuschen. Du musst die Wahrheit sagen, damit der Zuschauer dir glaubt. Talent bräuchte es auch, doch das fehlt mir leider.
Planen Sie weitere Projekte in Russland?
Wer weiss, vielleicht fahren wir jetzt nach den Spielen wieder nach Sotschi. Wir haben noch tonnenweise Material, das keinen Eingang in «Putins Spiele» gefunden hat, man könnte eine ganze Serie daraus machen.
Mich beschäftigt auch die Situation im Nordkaukasus, wo ich aufgewachsen bin. Meine Heimatstadt Machatschkala in Dagestan war früher eine richtig internationale Stadt, wo Russen, Juden, Awaren und Kumyken friedlich Tür an Tür lebten. Es spielte für uns nicht die geringste Rolle, wer welchen Nachnamen, welche Nationalität hatte. Heute herrscht dort Terror. Wie ist es dazu gekommen? Ich war schon über zwanzig Jahre nicht mehr dort und würde gerne hinfahren, doch das ist nicht ungefährlich.
Wieder in Russland leben möchten Sie auf gar keinen Fall?
Gott behüte, nein! Ich bin zufrieden hier in Israel, hier sind meine Geschwister, Kinder und Enkelkinder. In Russland fühle ich mich nicht wohl. Nein, ich möchte mein Leben hier zu Ende leben. Ich migriere höchstens noch auf den Friedhof.
Der Dokumentarfilmer Alexander Gentelew (54) ist in Russland aufgewachsen und lebt seit 1992 in Israel. Gentelew sagt, sein neuster Dokumentarfilm, «Putins Spiele» (2013), hätte eine Farce werden sollen. Nach drei Jahren Recherche in Sotschi habe er sich jedoch als Tragikomödie erwiesen.