Durch den Monat mit Alexander Gentelew (Teil 1): «Was haben Sie gegen Putins Spiele?»
Dokumentarfilmer Alexander Gentelew erzählt, was ihn bei den Dreharbeiten in Sotschi am meisten beeindruckt hat und weshalb der Ort zum teuersten Friedhof der Welt wird.
WOZ: Alexander Gentelew, am 7. Februar 2014 beginnen die Olympischen Winterspiele in Sotschi. Fahren Sie hin?
Alexander Gentelew: Nein.
Weshalb nicht?
Erstens will ich nicht, zweitens ist es sehr schwierig, dort hinzukommen. Eine Eintrittskarte reicht nicht, es braucht auch eine Sonderbewilligung der Sicherheitsorgane.
Sie boykottieren also quasi die Spiele?
Ich persönlich bin kategorisch gegen einen Boykott. Ein Sportler kann nur für sehr kurze Zeit aktiv sein. Olympische Spiele gibt es nur alle vier Jahre. Wer da nicht gehen kann, für den ist das eine Katastrophe – und auch für die Fans ist das schlecht. Man muss Politik und Sport trennen. Etwas anderes ist, was irgendwelche Minister und Premierminister tun oder lassen. Das sind politische Spielchen, von denen ich wenig verstehe. Die sind auch nicht mein Problem. Ich weiss, was ich gefilmt habe, was ich mit eigenen Augen gesehen habe.
Ihr Film «Putins Spiele» ist eine Langzeitstudie: Über drei Jahre lang haben Sie die Situation vor Ort verfolgt und versucht, das riesige Ausmass an Korruption, Pfusch und Misswirtschaft, an Enteignungen, Umweltverschmutzung und Bereicherung aufzuzeigen, die das Projekt Sotschi prägen. Was hat Sie während der Dreharbeiten am meisten beeindruckt?
Vieles, vor allem aber diese Gigantomanie. Und die eine Frage: Weshalb Sotschi? Erfreulicherweise ist Russland ja allgemein ein sehr schneereiches Land. Weshalb nur finden die Olympischen Winterspiele ausgerechnet in einer subtropischen Region statt, wo es dafür null Infrastruktur gab?
Weshalb?
Ganz einfach: Es gibt einen Menschen, der oft und sehr gerne nach Sotschi in die Ferien fährt: Wladimir Putin. Er fuhr in Sotschi einmal Ski und entschied: Hier gibt es die Olympischen Spiele. Es war im Prinzip die Entscheidung eines einzigen Menschen.
Mit weitreichenden Konsequenzen.
Die Einwohner Sotschis leiden fürchterlich: Während fünf Jahren Bauzeit haben sie dort immer wieder ohne Elektrizität, fliessend Wasser und Heizung gesessen. Es ist ein Irrenhaus. Proteste gab es massenhaft, mehrfach versuchten Einwohner auch, mit dem Internationalen Olympischen Komitee in Lausanne in Kontakt zu treten, doch sie wurden vom IOC abgewiesen. Viele haben jedoch Angst, etwas zu sagen: Eine Frau, deren Haus abgerissen wurde, lebt jetzt mit ihrem Mann und dem erwachsenem Sohn auf nur acht Quadratmetern. Doch sie sagte uns: Weil es für Olympia nötig war, sei das schon in Ordnung.
Die Spiele 2010 in Vancouver kosteten ungefähr zwei Milliarden Franken. Wie teuer ist Sotschi?
Die Kosten sind enorm. Die Summe von umgerechnet fünfzig Milliarden Franken, die wir im Film nennen, ist nur eine annähernd geschätzte Zahl. Diese riesige Menge Geld hätte gerade in Russland, wo etwa das Bildungswesen oder das Gesundheitssystem im Argen liegen, sinnvoller verwendet werden können.
Der Oppositionspolitiker Boris Nemzow sagt in Ihrem Film, dass über die Hälfte davon, rund dreissig Milliarden, in den Taschen der Beamten verschwand. Wie kann so etwas möglich sein?
Vom Schriftsteller Nikolai Karamsin, der vor rund 200 Jahren gelebt hat, heisst es, er habe, als er nach dem Zustand Russlands gefragt wurde, in ein Wort gefasst geantwortet: «Worujut» – sie klauen. Es ist immer noch dasselbe. Auch in der Sowjetunion gab es Korruption. Doch im heutigen Russland ist sie zum eigentlichen Systemfaktor geworden.
Mit welchen Schwierigkeiten hatten Sie während des Drehs zu kämpfen?
Während dreier Jahre baten wir das IOC, leitende Staatsbeamte und die Führer der Bauunternehmen immer und immer wieder um Interviews und Auskünfte. Wir erhielten kaum eine Antwort. In Russland wird nun kritisiert, unser Film sei einseitig. Daran sind diese Leute selbst schuld! Wir haben ehrlich gefilmt, was wir sahen. Zudem ist es ja nicht so, dass ich der Einzige bin. In Sotschi gibt es massenhaft Journalisten. Sie alle sehen: Hier ist es schlecht, da ist ein Bauwerk eingestürzt, hier werden Arbeiter als Sklaven gehalten und nicht entlöhnt … Alle, Journalisten und Einwohner von Sotschi, sehen das. Wer sieht es als Einziges nicht? Das IOC! Wer von uns ist blind?
Nemzow sagt im Film, Sotschi werde nach den Spielen zum «teuersten Friedhof der Welt».
Das sehe ich auch so. Ich bin in der Kaukasusrepublik Dagestan aufgewachsen, in Machatschkala. Das ist eine südliche Gegend, deshalb kann ich weder Ski fahren noch Schlittschuh laufen. Sotschi liegt noch südlicher, dort kann das auch niemand! In Hotels und Restaurants zahlt man irrwitzige Preise, mehr als in Österreich, dabei ist die Qualität – entschuldigen Sie den Ausdruck – scheisse. Für Wintersport fährt da nach den Olympischen Spielen doch niemand mehr hin!
Der russisch-israelische Filmemacher Alexander Gentelew (54) hat mit «Putins Spiele» (2013) eindrücklich den Ausbau der Region um die Schwarzmeerstadt Sotschi zum Austragungsort der diesjährigen Olympischen Winterspiele dokumentiert. Der Film ist auf www.youtube.com verfügbar. Ursprünglich sollte der Film «Putins Olympia» heissen, was jedoch vom IOC verboten wurde.