Rechtsstaat: «Der Rechtsbruch ist Alltag im Politbetrieb»
Jede Woche werden Gesetze erlassen, die die Verfassung oder das Völkerrecht verletzen. Der Rechtsstaat ist unter Druck. Der Staatsrechtler Rainer J. Schweizer versucht dagegenzuhalten.
Nationalratspräsident Ruedi Lustenberger gab den Ausschlag. Dank seinem Stichentscheid stimmte der Nationalrat vergangene Woche für eine Lockerung der Kriegsmaterialexporte. Künftig liefert die Schweiz auch in jene Länder Waffen, in denen Menschenrechte verletzt werden. Nächste Woche wird der Nationalrat über die Umsetzung der Ausschaffungsinitiative der SVP befinden. Straffällig gewordene AusländerInnen werden voraussichtlich automatisch und ohne Einzelfallprüfung ausgeschafft werden, obwohl dies einem Bundesgerichtsentscheid von 2013 widerspricht, die Verfassung verletzt und gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) verstösst.
Im Hintergrund lauert bereits die Durchsetzungsinitiative der SVP, die garantieren soll, dass die Ausschaffungsinitiative im Sinn der Partei umgesetzt wird. Darin soll namentlich das «zwingende Völkerrecht» sehr restriktiv definiert werden, weshalb der Bundesrat die Initiative für teilungültig erklärte.
Im Mai wird die Stimmbevölkerung über die sogenannte Pädophileninitiative entscheiden. Auch sie verstösst gegen das verfassungsmässige Prinzip der Verhältnismässigkeit und schafft die Einzelfallprüfung ab.
Nur noch notwendige Übel
Der Rechtsstaat gerät in Bedrängnis. Gerichtsentscheide, Verfassung und Völkerrecht werden torpediert. Nicht nur durch Initiativen, sondern auch durch das Parlament, die Verwaltung und die Regierung. Es ist eine politische Veränderung im Gang. Verfassung und Gesetz werden nur noch als notwendiges Übel gesehen und die eigentlichen Wertsetzungen nur noch in Effizienz und Rentabilität ausgedrückt.
Der letzte Satz stammt von Rainer J. Schweizer. Schweizer ist ein kluger, bedächtiger Mensch, ein Staatsrechtler, der sich immer wieder in die Politik einmischt und dabei Positionen vertritt, die zwar oft in der Minderheit sind, aber vernünftig. Vernünftig, weil sie grundsätzlich sind, weil sie sich auf die Aufklärung und die Demokratie stützen, weil sie die rechtsstaatlichen Prinzipien verteidigen. Anruf also bei Rainer J. Schweizer. Er nimmt das Telefon ab und sagt: «Ihr Anruf kommt gerade richtig. Ich arbeite an einem neuen Buch mit dem Titel ‹Die Verfassung stört nicht mehr›.»
Ein paar Tage später, Mittagessen in St. Gallen, in der Stadt, wo Schweizer von 1990 bis 2010 als Professor für öffentliches Recht, Europarecht und Völkerrecht dozierte, wo er weiterhin arbeitet. Schweizer setzt sich, legt einen Stapel Papiere auf den Tisch, daneben ein kleines, dickes Buch, rot-blauer Umschlag: öffentliches Recht, auf den ersten Seiten die Bundesverfassung. Er wird es die nächsten zwei Stunden immer wieder zur Hand nehmen, darin blättern, vorlesen, dann und wann heftig draufklopfen, wenn er etwas mit Nachdruck sagen will.
Herr Schweizer, was ist faul im Rechtsstaat Schweiz?
«Rechtsstaat mit Füssen getreten»
«Wir erleben derzeit einen kulturellen Wandel», sagt Schweizer. «Es gibt in der Schweiz keinen Rechtsstaatskonsens mehr. Der einzige Konsens besteht heute in der individuellen Wohlstands- und Profitmaximierung in einer globalisierten Welt.»
Rainer J. Schweizer ist so etwas wie das Gewissen des Rechtsstaats. Wenn er das hört, rollt er zwar ein wenig mit den Augen, sagt aber nichts. Was will er auch darauf antworten.
Schweizer ist seit Jahrzehnten Mitglied der FDP, aber seine Haltung ist nie parteipolitisch, sondern stets verfassungsmässig begründet. Dass die SVP straffällig gewordene AusländerInnen automatisch ausschaffen will, ist für ihn ebenso inakzeptabel wie die unrechtmässige Lieferung von Bankdaten in die USA. Als die Schweiz 2009 Kundendossiers in die USA schickte, bezeichnete er das als Verfassungsbruch. «Der Rechtsstaat wurde mit Füssen getreten», sagt Schweizer heute, und man merkt, dass er sich noch immer darüber aufregt. Die Unschuldsvermutung wurde ausser Kraft gesetzt, BankkundInnen rückwirkend bestraft für Taten, die in der Schweiz zuvor gar nicht strafbar waren. Der Gipfel war in Schweizers Augen, dass die Banken selbst entschieden, wen sie ans Messer liefern wollten. «Damit hat man die Banken zu Gehilfen der amerikanischen Behörden gemacht.» Hinzu kommt – und das war kürzlich während der Anhörung der Credit Suisse im US-Senat wieder sichtbar –, dass die wirklich Verantwortlichen, die obersten Bosse, die das Steuerhinterziehungsgeschäft angetrieben und abgesegnet haben, nicht dafür büssen müssen. In der Finanzkrise, sagt Schweizer, sei eine Gesellschaftskrise sichtbar geworden.
Aus den Fugen
«Zweitwohnungen», sagt er dann: «Auf acht Millionen Menschen in der Schweiz kommt über eine halbe Million Zweitwohnungen. Da ist doch etwas aus den Fugen geraten.» Aber was hat das mit dem Rechtsstaat zu tun, Herr Schweizer? «Nehmen Sie die kantonale Wirtschaftsförderungspolitik, die irgendwelche Oligarchen und Abkömmlinge von Diktatoren mit Steuervergünstigungen in die Schweiz holt. Das tönt vielleicht etwas undifferenziert, nicht sehr wissenschaftlich, was ich da sage. Aber das generiert keine Wertschöpfung in der Schweiz. Aus der Überwindung der Wirtschaftskrise der neunziger Jahre ist eine Mentalität der Wohlstandsmaximierung entstanden. Und mein Eindruck ist, dass es dadurch zu kulturellen und gesellschaftlichen Brüchen kommt. Das fordert den Rechtsstaat heraus. Aber deswegen haben wir doch noch keine Notstandssituation! Wir müssen also versuchen, die fundamentalen Rechte stärker zu sichern.»
Doch ebendiese Rechte werden laufend hintertrieben, willentlich missachtet oder – für Schweizer am ärgerlichsten – komplett ignoriert. Aktuell etwa in der laufenden Frühlingssession des Parlaments: Zwei Vorstösse verlangten vom Bundesrat, die Übergangsfrist für neue Mandate ehemaliger Bundesräte zu regeln. Eine solche Karenzfrist oder «cooling off period» ist auch von der UN-Konvention gegen Korruption vorgesehen. Anlass zu den Vorstössen in der Schweiz hatte Altbundesrat Moritz Leuenberger gegeben, der 2011 kurz nach seinem Rücktritt im Verwaltungsrat des Baukonzerns Implenia Einsitz nahm, dem der Bund zuvor Aufträge zugesprochen hatte, etwa beim Bau der Neat-Tunnel. Die Interpellationen wurden vom Parlament abgelehnt, beinahe diskussionslos. Für Rainer J. Schweizer ein Rechtsbruch: «Wir haben die internationale Antikorruptionskonvention unterschrieben. Und darüber redet nicht einmal jemand!»
Oder das neue Nachrichtendienstgesetz, das der Bundesrat unlängst dem Parlament vorgelegt hat: Der Nachrichtendienst soll künftig im In- und Ausland Trojaner einsetzen können. Schweizer: «Ein klarer Verstoss gegen das Computer-Crime-Abkommen!» Oder der Bau der zweiten Gotthardröhre: ein Verstoss gegen die vor zwanzig Jahren in die Verfassung geschriebene Alpeninitiative, weil es unweigerlich zu mehr Transitverkehr kommen wird.
Schweizer klopft auf den Tisch: «Der Rechtsbruch ist heute Alltagsgeschäft im politischen Betrieb.» Sein Blick sagt: Ausrufezeichen. Dann schliesst er die Augen, lehnt sich zurück an die Wand, streckt die Arme von sich wie Waffen, und sagt: «Was soll man da noch machen? Der Bundesrat und die Bundesversammlung scheren sich einen Deut um die Verfassung! Der Rechtsstaat hat keinen Anwalt mehr.»
Überhöhte direkte Demokratie
Das Problem dabei ist nicht nur, dass Bundesrat und Parlament laufend Rechtsbrüche begehen. Hinzu kommen verschiedene Initiativen, die im klaren Widerspruch zur Verfassung und zu internationalem Völkerrecht stehen. «Die Initiative war ein Instrument für die Minderheit. Heute aber ist es ein Schwert aller Parteien, um sich zu profilieren, Wahlkampf zu machen, Stimmen zu fangen. Das ist legitim. Aber die Initiativen werden heute zu sehr à la lettre genommen. So, als gäbe es nichts anderes zu berücksichtigen, etwa das Völkerrecht.» Den InitiantInnen will Schweizer aber keinen Vorwurf machen, sie täten schliesslich nur, was der oberste Gesetzgeber laufend mache. Seine Kritik ist grundsätzlicher, sie zielt auf das Spannungsverhältnis zwischen Demokratie und Rechtsstaat: «Direkte Demokratie hat viele Vorteile, sie zwingt zu Transparenz und Rechtfertigung. Aber sie wird völlig überhöht. Das führt zur falschen Vorstellung, dass das Volk immer das letzte Wort habe und sein Wort bis auf den letzten Punkt verbindlich sei. Zudem glaubt man, das Volk müsse sich nicht an Verfassung und Völkerrecht halten.»
Als Beispiel nennt Schweizer die Ausschaffungsinitiative der SVP. Da werde versucht, das Prinzip der Verhältnismässigkeit abzuschaffen. «Artikel fünf, Bundesverfassung: Verhältnismässigkeit!», sagt Schweizer. «Selbst wenn wir nun sagen, für Ausländer soll die Verhältnismässigkeit nicht gelten – sie gilt doch. Da müssen wir den Leuten ehrlich sagen: Hallo?! Dann müsst ihr auch das Bundesgericht abschaffen. Gewisse Grundsätze lassen sich nicht einfach abschaffen. Auch wenn der Nationalrat dafür stimmt. Das ändert nichts daran.» Ist das eine Feststellung oder eine Kampfansage, Herr Schweizer? «Beides. Man muss den Leuten ehrlich sagen, dass sie hier eine Übung machen, die juristisch und menschlich nur Probleme bringt.»
Auf die Problematik angesprochen, dass die Ausschaffungsinitiative elementare Fragen der Rechtsstaatlichkeit ausser Acht lasse, zuckte ein FDP-Nationalrat kürzlich im persönlichen Gespräch nur mit den Schultern und sagte, dann werde halt der erste kritische Fall hochprozessiert bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Und dann könne man das Gesetz ja wieder ändern.
«Das ist bizarr», sagt Schweizer. «Weil wir gegenüber Bundesgesetzen und Entwürfen von Staatsverträgen keine verfassungsgerichtliche Kontrolle haben, lagern wir diese Fragen nach Strassburg aus. Das ist eine schlechte Strategie. Später werden dann die EMRK und der Menschenrechtsgerichtshof angegriffen, um so die Justiz Stück für Stück zu delegitimieren. Verstehen Sie? Man bestreitet zunehmend die demokratische Legitimierung des Menschenrechtsgerichts und auch des Bundesgerichts. Und wenn wir so weit sind, bleibt uns nur noch das Faustrecht.»
Rainer Schweizer klappt die Verfassung zu, steht auf, zahlt und sagt: «So, das war mein Vortrag. Jetzt muss ich wieder an die Arbeit.»