Ausschaffungspraxis: Die Herrschaft des Zeitgeists

Nr. 13 –

Wie halten es die Behörden mit der Ausschaffung straffällig gewordener AusländerInnen? Die WOZ befragte die kantonalen Migrationsämter, ob sie seit Annahme der Ausschaffungsinitiative ihre Praxis verschärft haben.

Am 24. Januar 2013 stützte das Bundesgericht den Entscheid des Migrationsamts St. Gallen, einen seit über zwanzig Jahren in der Schweiz wohnhaften Mann mazedonischer Herkunft wegzuweisen. Dieser kam 1991 im Alter von acht Jahren in die Schweiz, hat hier die Schulen besucht und eine Lehre als Polymechaniker gemacht. Im Zeitraum zwischen 2007 und 2009 wurde er dreimal zu bedingten Geldstrafen und Bussen verurteilt und kassierte im April 2010 eine Gesamtstrafe von zwei Jahren. Das Kreisgericht Rheintal hatte ihn des mehrfachen (unbewaffneten) Raubs mit einer Gesamtdeliktsumme von knapp 300 Franken, der mehrfachen versuchten Nötigung, Drohung und Übertretung des Betäubungsmittelgesetzes (Besitz und Konsum von Marihuana) schuldig gesprochen.

Die Strafe wurde aufgrund einer gutachterlich festgestellten schizoaffektiven Störung des Delinquenten «zugunsten einer stationären therapeutischen Massnahme» nach Art. 59 des Strafgesetzbuchs aufgeschoben. Diese sogenannte kleine Verwahrung kann für die Betroffenen unabhängig vom Strafmass bis zu fünf Jahre Freiheitsentzug in der forensischen Psychiatrie bedeuten.

Bereits rund ein halbes Jahr nach der Verurteilung widerrief das Migrationsamt St. Gallen die Niederlassungsbewilligung, ohne einen möglichen Therapieerfolg abzuwarten. Die Verteidigung reichte dagegen erfolglos Beschwerde beim Bundesgericht ein. In der Begründung der Abweisung heisst es in Bezug auf die psychische Krankheit: «Letztlich befindet sich der Beschwerdeführer in der gleichen Lage wie seine Landsleute in Mazedonien, welche an den gleichen Beschwerden leiden und dennoch kein Anwesenheitsrecht in der Schweiz verlangen können.» Ein unverhältnismässig hartes Verdikt angesichts einer so langen Anwesenheit in der Schweiz?

Vor zwei Wochen machte der «Tages-Anzeiger» einen anderen Fall publik: Ein St. Galler Paar um die fünfzig soll nach Italien ausgewiesen werden, obwohl der Mann und die Frau in der Schweiz geboren sind und ihr ganzes Leben hier verbracht haben. Sie sind italienische Staatsangehörige, HIV-positiv und wegen ihrer Drogenabhängigkeit mehrmals straffällig geworden.

Gemessen an der Art der Taten und der Länge des Aufenthalts in der Schweiz gilt dieser Landesverweis unter ExpertInnen als einmalig, weshalb Rechtsanwalt Paul Rechsteiner den Fall an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte weitergezogen hat.

Ist die Wegweisung des St. Galler Paars das «Signal einer restriktiveren Praxis» seit der Annahme der Ausschaffungsinitiative im November 2010, wie Paul Rechsteiner vermutet?

Wenig brauchbare Zahlen

Die heute verfügbaren Zahlen sind wenig brauchbar. Einerseits liefern viele Kantone keine Angaben, andererseits sind beispielsweise Zahlen zu effektiv getätigten Ausschaffungen wenig aussagekräftig, da der Widerruf oder die Nichtverlängerung einer Aufenthaltsbewilligung in der Regel weit vor der Entlassung aus dem Strafvollzug verfügt wird.

Nachdem letzte Woche auch der Ständerat als Zweitrat die Motion des Luzerner SVP-Nationalrats Felix Müri angenommen hat, müssen die Kantone künftig jedes Quartal eine Statistik über vollzogene Ausschaffungen publizieren.

Die WOZ hat die Migrationsämter sämtlicher Kantone auf ihre heutige Praxis und eine mögliche Verschärfung seit Annahme der Ausschaffungsinitiative befragt. Eine Verschärfung gebe es nicht, heisst es mehrheitlich, man halte sich an die bundesgerichtliche Rechtsprechung und setze das heute geltende Recht um. Das Bundesgericht verweist allerdings in verschiedenen neueren Entscheiden, so auch im Fall des oben erwähnten St. Galler Paars, auf den noch nicht umgesetzten Verfassungsartikel zur Ausschaffungsinitiative. Dieser sei insoweit zu berücksichtigen, als er zu keinem Widerspruch zu übergeordnetem Recht führe.

Dass seit der Annahme der Initiative vermehrt AusländerInnen der zweiten Generation weggewiesen würden, stellen nahezu alle Kantone in Abrede, oder sie verweisen auf fehlende Statistiken. Einzig das Migrationsamt des Kantons Basel-Landschaft antwortet, unter den Weggewiesenen befänden sich «vermehrt auch langjährig Ansässige bis hin zu hier geborenen Personen». In den letzten Jahren sei der Kanton Basel-Landschaft etwas strenger geworden, was die Wegweisung von straffälligen ausländischen Personen anbelange, und mit der Wegweisungsprüfung werde allgemein etwas früher begonnen.

Das Migrationsamt Thurgau dagegen gibt an, man verfolge auch bei Einbruchsdelikten oder Beschaffungskriminalität im Einklang mit den anderen Ostschweizer Kantonen «seit Jahren eine tendenziell strenge Praxis».

Ruf nach hartem Durchgreifen

Die angenommene Initiative, so ein Westschweizer Migrationsbeamter «off the record», sei Ausdruck eines seit längerem feststellbaren Rufs der Bevölkerung nach hartem Durchgreifen gegenüber straffällig gewordenen AusländerInnen.

Der Menschenrechtsverein Augenauf Bern geht aufgrund verschiedener bei ihm eingegangener Meldungen davon aus, dass sich die Praxis seit Annahme der Initiative verschärft hat. Um daraus einen generellen Trend abzuleiten, seien die Angaben aber zu spärlich. Laut der NGO Solidarité sans frontières sei es schwierig zu sagen, ob es eine Verhärtung im Sog der Initiative gegeben habe. Ähnlich tönt es bei der Rechtsberatungsstelle Oasi in Genf.

Der Lausanner Rechtsanwalt Jean-Michel Dolivo sagt, in der Waadt sei der 2007 gewählte Regierungsrat Philippe Leuba (FDP) für eine Verschärfung verantwortlich gewesen. Leuba habe im Vorfeld der Wahlen eine strikte, systematische Wegweisungspraxis gegenüber AusländerInnen verlangt, die schwerwiegende Straftaten begangen haben.

Die härtere Gangart in der Waadt führt Dolivo auf den Zeitgeist («l’air du temps») zurück. «Ich denke, dass Paul Rechsteiner recht hat mit seiner Diagnose, aber statistisch belegen lässt sich das wohl nicht.»

Vom verfassungs- und menschenrechtswidrigen Automatismus, den die Ausschaffungsinitiative verlangt, einmal abgesehen, ermöglicht das 2008 in Kraft gesetzte revidierte Ausländergesetz den Behörden schon heute eine restriktive Praxis. Ein weiterer Westschweizer Migrationsbeamter sagt dazu: «Korrekt angewendet, ist das heutige Gesetz gleich effizient oder effizienter als der Verfassungsartikel gemäss Initiative. Die Ausschaffungsinitiative bringt in der Anwendung keine neuen Werkzeuge.» Auf den verlangten Automatismus angesprochen, meint er: «Ein Automatismus ist meiner Meinung nach nicht möglich, denn jedes Individuum hat eine eigene Vergangenheit.»

Die Ausschaffungsinitiative scheint also nicht viel mehr als ein SVP-Wahlkampfvehikel zu sein. Es war der Partei sehr wohl bewusst, dass eine wortgetreue Umsetzung grundsätzlich den Rechtsstaat und internationale Abkommen infrage stellen würde. In diesem Spiel kann die SVP nur gewinnen: Wird die Initiative nicht in ihrem Sinne umgesetzt, kann sie sich in die Opferrolle begeben, die «Kuscheljustiz» anprangern und dabei noch schärfer auf die sozial Schwächsten zielen. Von auszuschaffenden Steuerhinterzieherinnen und Profitmaximierern jedenfalls spricht sie nicht.

Sollte die Initiative wörtlich umgesetzt werden, wie dies letzte Woche vom Nationalrat beschlossen wurde, ist die Gewaltenteilung als Basis der Schweizer Demokratie in Gefahr.

Nationalrat auf SVP-Kurs

Am 20. März hat sich der Nationalrat für einen völkerrechtswidrigen Automatismus bei der Ausschaffung straffälliger AusländerInnen ausgesprochen – «schweren Herzens», wie etwa der Solothurner FDP-Nationalrat Kurt Fluri am Rednerpult beteuerte. Um die SVP-Ausschaffungsinitiative umzusetzen, will sich der Rat sklavisch an den Inhalt der von der SVP nachgereichten Durchsetzungsinitiative halten.

Damit soll im Gesetz die Liste der Delikte, die zur automatischen Ausschaffung führen, abschliessend festgehalten werden. Neben Mord und Totschlag sind das etwa Sozialhilfemissbrauch oder Verstösse gegen das Betäubungsmittelgesetz; dagegen fehlen Vermögens- und Wirtschaftsdelikte, Unterschlagung und Ähnliches. Die SVP werde die Durchsetzungsinitiative zurückziehen, wenn der Ständerat in den wesentlichen Punkten dem Nationalrat folge. – So effizient ist unser Parlament, es setzt die Durchsetzungsinitiative selber um und erspart sich und uns die Volksabstimmung.

Interview mit dem Juristen Marc Spescha : Ein absolutistisches Demokratieverständnis

WOZ: Marc Spescha, gemäss Art. 5, Abs. 2 der Bundesverfassung muss staatliches Handeln im öffentlichen Interesse liegen und verhältnismässig sein. Wie verhältnismässig ist die heutige Praxis der Ausschaffungspolitik?
Marc Spescha: Wie die Verhältnismässigkeitsprüfung ausfällt, ist auch vom Zeitgeist abhängig. Die von jeher strenge Praxis geht seit längerem in Richtung einer noch strengeren Linie. In Grenzfällen werden Betroffene heute eher weggewiesen als früher.

Besteht ein Zusammenhang mit der Annahme der Ausschaffungsinitiative?
Die Abstimmung hat diejenigen Kreise bestärkt, die härter reagieren wollen. Strassburg schränkt den nationalen Spielraum allerdings ein, insbesondere bei langjährig anwesenden Straffälligen und wenn die Wegweisung zur Folge hat, dass Familien auseinandergerissen werden.

Am Donnerstag letzter Woche hat der Nationalrat beschlossen, die Ausschaffungsinitiative solle im Wortlaut umgesetzt werden.
Die Mehrheit des Nationalrats unterwirft sich leichtfertig dem Volksmehr zur Ausschaffungsinitiative. Der neue Verfassungsartikel hat nämlich nicht automatisch ihm widersprechende Verfassungsartikel ausser Kraft gesetzt! Als demokratisches Organ ist das Parlament gemäss Art. 35, Abs. 2 der Bundesverfassung nach wie vor an die Grundrechte gebunden und explizit verpflichtet, zu ihrer Verwirklichung beizutragen. Der Ausschaffungsartikel hat auch die zentralste Bestimmung unseres Rechtsstaats, nämlich Art. 5 der Bundesverfassung, nicht aus der Verfassung gestrichen. Der Rechtsstaat wird vom Nationalrat aber auf klägliche Weise einem absolutistischen Demokratieverständnis geopfert.

Gerät die Schweiz nicht auch in Konflikt mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK)?
Tatsächlich ist die Umsetzung der Initiative im Sinn des Nationalrats auch mit der EMRK und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in krasser Weise unvereinbar. Das Bundesgericht als Menschenrechtsgericht wird das Gesetz in einer Vielzahl von Fällen nicht anwenden können, da absehbar ist, dass der EGMR andernfalls die Schweiz wegen Verletzung der EMRK rügen müsste. Dass Politik und Volk die EMRK kündigen würden, was die Konsequenz wäre, wage ich mir in den dunkelsten Träumen nicht vorzustellen. Dann nämlich hätte sich die Schweiz von der europäischen Rechtsgemeinschaft verabschiedet und definitiv aufgehört, ein Rechtsstaat zu sein.

Patrik Maillard

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