Biodiversität: Leuchtende Pilze und watschelnde Ratten

Nr. 17 –

Die Biodiversität ist bedroht, keine Frage. Doch so manche Spezies, die als ausgestorben galt, taucht plötzlich wieder auf – selbst in Mitteleuropa entdecken ForscherInnen noch immer neue Arten.

«Hallo!»: Begegnung mit einem Quastenflosser (Coelacanthus). Foto: Blancpain

Ein frostiger Frühlingsmorgen in einem Wäldchen am Stadtrand von Berlin. Erhard Ludwig, 75, tut, was er am liebsten tut. Er sucht nach neuen Pilzarten. «Manche Pilze sind auf Kälte angewiesen», erzählt er. Der Austernseitling etwa wachse ausschliesslich bei Minusgraden. Schon beugt sich der bärtige Pensionär weit nach vorne und deutet auf erste Pilze: Helmlinge. «Diese hier kann man sogar essen», sagt er und lächelt. «Sie schmecken allerdings nach Kernseife.»

Erhard Ludwig muss es wissen. Seit Jahrzehnten beschäftigt er sich mit Pilzen. Anfangs mit Speisepilzen wie Pfifferling, Steinpilz und Marone. Bald aber auch mit den Tausenden weiterer Grosspilzarten Europas. Mehr als dreissig Pilze hat er als Erster wissenschaftlich beschrieben. Auf einen stiess Ludwig nur etwa dreissig Kilometer von seiner Wohnung entfernt, in einem Park in Potsdam. «Der Aprikosengelbe Faltenschirmling», sagt er schwärmerisch, als spreche er von einer schönen Frau: «Leucocoprinus armeniacoflavus.»

Man muss nicht zwingend in die Tropen reisen, um sich um die Biodiversitätsforschung verdient zu machen, weiss Ludwig. Auch in Mitteleuropa, das bereits Generationen von BiologInnen auf der Suche nach Arten durchkämmt haben, stossen Wissenschaftlerinnen und autodidaktische Liebhaber noch gelegentlich auf Unbekanntes. Manche der Neufunde stammen aus weit entfernten Regionen der Erde. Andere Spezies hingegen wurden weltweit noch nirgendwo gesichtet – oder galten bereits als ausgestorben. So wie der Fingerhut-Faltenschirmling, der auf dem gesamten Planeten fast fünfzig Jahre verschwunden war, als Erhard Ludwigs Gattin Regine 2010 in einem Park in Greifswald zufällig ein Exemplar pflückte.

Fahndung nach «Lazarus-Arten»

Es ist ein kurioses Phänomen: Sogar Arten, die seit grauer Vorzeit nie mehr jemand gesehen hat, können eines Tages plötzlich wieder auftauchen. Der Quastenflosser etwa, ein eindrucksvoller, bis zu zwei Meter langer Knochenfisch, war lediglich als Fossil bekannt. 1938 aber entdeckte eine Biologin aus Südafrika im Fang eines Fischkutters plötzlich ein solches Tier: nach 70 Millionen Jahren. Irgendwo im Verborgenen muss die Spezies überlebt haben. Auch die Laotische Felsenratte, ein struppiger Nager, der wie eine Ente watschelt, galt als seit vielen Millionen Jahren verschollen, als WissenschaftlerInnen vor sieben Jahren auf einem Markt in Zentrallaos ein frisch gegrilltes Exemplar angeboten wurde. Bald darauf gelang es den ZoologInnen, eine lebende Laotische Felsenratte zu fangen.

Solche wiedergefundenen Spezies werden «Lazarus-Arten» genannt – nach dem biblischen Lazarus, den Jesus einst von den Toten erweckte. Sie sind gar nicht so selten: Von 187 Säugetierarten, die in den letzten 500 Jahren für ausgestorben erklärt wurden, tauchten 67 wieder auf. Und mindestens 62 dieser Arten existieren bis heute.

Noch in den neunziger Jahren galt folgende Faustregel: Wird eine Spezies ein halbes Jahrhundert lang nicht mehr gesichtet, so bleibt sie wahrscheinlich für immer verschwunden. Heute ist man da zurückhaltender. Erst wenn ExpertInnen zwanzigmal erfolglos nach einer Art gesucht haben, ist sie wohl tatsächlich ausgestorben, schätzen BiologInnen. Nach dem Tasmanischen Tiger etwa, der auf dem australischen Festland bereits vor mehr als 2000 Jahren ausgerottet wurde (und in Tasmanien in den dreissiger Jahren), wird daher immer noch gefahndet.

Wie viele Arten es weltweit insgesamt gibt, ist umstritten. Etwa 1,8 Millionen sind wissenschaftlich beschrieben. «Doch diese Zahl sagt nicht allzu viel aus», sagt der Biodiversitätsforscher Matthias Glaubrecht vom Museum für Naturkunde Berlin. Es existiert nämlich keine weltweite Gesamtübersicht, und viele Arten werden in Nachschlagewerken unter verschiedenen Namen mehrfach geführt. Denn im Lauf der Jahrhunderte wurden sie von mehreren ForscherInnen «neu entdeckt». Der gewöhnliche Feldhase (Lepus europaeus) etwa hat auf diese Weise insgesamt 43 wissenschaftliche Bezeichnungen erhalten.

Nicht nur Winzlinge

Die mit Abstand grösste Biodiversität findet sich in den tropischen Regenwäldern. Doch allein in den vergangenen dreissig Jahren wurden etwa achtzig Prozent dieser Hochburgen der Artenvielfalt abgeholzt. «Ununterbrochen gehen Zigtausende Spezies verloren, bevor sie die Menschheit überhaupt entdeckt hat», sagt Glaubrecht. Dennoch scheint es noch immer weit mehr als 1,8 Millionen Spezies zu geben. Aufgrund von Stichproben an einzelnen Bäumen im Regenwald gehen manche ExpertInnen in Hochrechnungen mittlerweile gar von bis zu dreissig Millionen aus. «Gegen solche Massen kann man nur schwer anforschen», sagt Glaubrecht. Zumal die Taxonomie – die klassische Beschreibung von Arten – leider ein verstaubtes Image habe. Es werde immer schwerer, dafür Forschungsgelder bewilligt zu bekommen. «Eigentlich absurd», sagt der Wissenschaftler. «Denn auf der anderen Seite sagen alle ständig: ‹Wir müssen die Artenvielfalt schützen!›»

Dennoch gab es in den letzten Jahren faszinierende Neuentdeckungen: zum Beispiel den Pfannkuchen-Fisch, den ForscherInnen ausgerechnet während der Ölpest im Golf von Mexiko erstmals sichteten. Dieses Wesen, das mit seinen Stummelflossen über den Boden rennt, sieht wie eine Kreuzung aus einer Kröte und einem Omelett aus. Ungewöhnlich ist auch der Totenlicht-Pilz (Mycena Luxaeterna) aus Brasilien, dessen Stängel wie eine Lampe leuchtet. Und nicht alle Newcomer sind Winzlinge: Der goldgelb gesprenkelte Sierra-Madre-Waran beispielsweise, eine Echse, die unlängst auf den Philippinen entdeckt wurde, kann mehr als zwei Meter lang werden.

Auch die Schweiz und Deutschland haben mit hoher Wahrscheinlichkeit noch weltweit unbekannte Tiere zu bieten: Die sogenannte Trugameise etwa, der Kuckuck unter den Insekten, wurde erst vor wenigen Monaten in Bayern entdeckt und als neue Spezies beschrieben. Der Name kommt daher, dass die Weibchen dieser Wespenart flügellos sind – und auf den ersten Blick wie Ameisen aussehen.

Besonders faszinierend war aus wissenschaftlicher Sicht die Entdeckung der Fontane-Maräne (Coregonus fontanae) im Jahr 2003. Bei diesem etwa fünfzehn Zentimeter langen Flossentier, das sich am liebsten in Tiefen von mehr als zwanzig Metern in kühlem Wasser aufhält, handelt sich um einen nahen Verwandten der Kleinen Maräne, die auch als Speisefisch beliebt ist. Das Spektakuläre: Die Fontane-Maräne belegt, dass eine neue Art bereits innerhalb von wenigen Tausend Jahren entstehen kann. Weltweit lebt dieser Fisch nämlich ausschliesslich im Stechlinsee in Brandenburg – und dieses Gewässer ist erst während der letzten Eiszeit, vor etwa 12 000 Jahren, entstanden.

Die Artenbeschreibung verwaist

Oft aber liegen interessante Tier- oder Pflanzenfunde jahrelang in Museen und Archiven in irgendwelchen Schubladen, bis sich jemand die Zeit nimmt, sie zu bestimmen – und feststellt, dass es sich um eine noch unbekannte Spezies handelt, wie Glaubrecht kritisiert. Bei den Tausenden Arten, die im Jahr 2007 neu beschrieben wurden, waren seit ihrem Fund im Durchschnitt mehr als zwei Jahrzehnte vergangen. Eine Giftschlange aus Indonesien verstaubte gar mehr als 200 Jahre lang in einem Museum, bevor WissenschaftlerInnen sie als eigenständige Art identifizierten. Die Taxonomie verwaist an den Hochschulen und Forschungszentren immer stärker.

Inzwischen bleibt diese Arbeit häufig an Autodidakten wie dem Pilzliebhaber Erhard Ludwig aus Berlin hängen. Der pensionierte Verwaltungsbeamte gibt im Eigenverlag Pilzbücher heraus, Tausende Arten hat er in Aquarell gemalt. An diesem Frühlingsmorgen stapft er noch immer durch die frostige Kälte. Auch, weil ein Kollege aus dem Pilzfreundeverein neulich, unweit von Berlin, ein Exemplar der vielleicht schönsten Pilze überhaupt gefunden hat: einen scharlachrot leuchtenden Prachtbecherling. Und selbstverständlich hofft Ludwig immer, mal wieder auf einen noch unbekannten Pilz zu stossen, eine Weltneuheit.

Andere ForscherInnen wollen vor allem vermeintlich ausgestorbene Arten wiederfinden: Unlängst tauchte der Steinrötel wieder auf, ein der Drossel ähnelnder Brutvogel, der zumindest deutschlandweit rund 250 Jahre lang verschwunden war. Doch handelt es sich dabei um eine echte Lazarus-Art? Viele ExpertInnen halten diesen Begriff, auf einzelne Staaten begrenzt, für fragwürdig. «Tieren sind Landesgrenzen doch völlig egal», sagt Matthias Glaubrecht. «Viele Arten, die hierzulande als verschollen galten und nun wiederentdeckt werden, sind mit hoher Wahrscheinlichkeit einfach wieder immigriert.»

Deutschland sei – im Gegensatz zur Schweiz seit dem jüngsten Volksentscheid – «eben ein Einwanderungsland». Der Goldschakal beispielsweise, ein Wildhund aus Südosteuropa, kam um das Jahr 2000 erstmals über die deutsche Grenze. Andere Exoten wurden ursprünglich als Haus- oder Zootiere ins Land geholt: Mehrere Dutzend Nandus etwa, bis zu 140 Zentimeter hohe Laufvögel aus Argentinien, die vor gut dreizehn Jahren aus einer Privathaltung entkommen sind, leben in Mecklenburg. Im Münsterland hausen geflohene Flamingos und bei Köln entflogene Halsbandsittiche.

Dennoch gibt es Anlass zur Sorge. Denn der Rückgang vieler Arten überwiegt die Zunahme bei einigen wenigen deutlich. Die Gründe sind bekannt: Überdüngung von Landwirtschaftsflächen, Pestizideinsatz, Trockenlegung von Sümpfen, Monokulturen, Strassen- und Siedlungsbau. Insgesamt stehen in Deutschland derzeit 2704 Arten auf der Roten Liste. Mehr als die Hälfte der Wildbienenarten gilt als gefährdet. Bei den Langbein-, Tanz- und Rennraubfliegen (Empidoidea) – von denen einige Borkenkäfer und weitere Schädlinge bekämpfen – sind es gar fast siebzig Prozent.

Auch etliche heimische Pilzarten werden immer seltener. Noch vor dreissig Jahren fand man auf Viehweiden zum Beispiel sehr häufig Wiesenchampignons. «Die gehören zu den besten Speisepilzen überhaupt», sagt Erhard Ludwig. «Aber inzwischen sind sie eine echte Rarität.» Dafür stösst er auf seinen Streifzügen durch die heimischen Wälder immer häufiger auf Exoten: etwa den Tintenfischpilz mit seinen tentakelartigen rosa Sporenträgern, der wohl auf dem Seeweg aus Australien eingeschleppt wurde. Das Erfreuliche: Diese Pilze seien nicht sonderlich invasiv, sagt Ludwig. Anders als der Homo sapiens lassen sie auch für andere Arten genügend Lebensraum.