Porträt: Zwischen den Fronten des Informationskriegs

Nr. 18 –

Irina Bilyavska kämpft von Einsiedeln aus gegen «Putins Aggressionen» in der Ukraine. Das führt auch zu Konflikten mit ihren Verwandten.

Irina Bilyavska auf ihrem Gartensitzplatz in Einsiedeln: «In den Medien fehlt die gemeinsame Analyse mit Ukrainern.»

Irina Bilyavska Camenzind bittet in die einfach eingerichtete Wohnung in einem Neubauquartier in Einsiedeln. Vor neun Jahren ist sie von der Ukraine in die Schweiz gekommen, sie spricht fliessend Deutsch mit russischem Akzent.

Dass Bilyavska seit Monaten ein Wechselbad der Gefühle durchlebt, sieht man ihr nicht an. Obwohl sie die Ereignisse in der Ukraine aufwühlen, strotzt sie vor Energie. Spät am Abend, wenn ihr Mann und die Kinder schon längst im Bett liegen, kontaktiert die 43-Jährige FreundInnen und Verwandte in verschiedenen Regionen der Ukraine: «Dort sind die Menschen verunsichert, sie wissen nicht mehr, wem sie glauben sollen. Sie ducken sich und schweigen, um am Ende nicht auf der falschen Seite zu stehen.»

Auch die eigene Familie stehe plötzlich «an verschiedenen Ufern». Irina Bilyavskas Bruder etwa lebt in Moskau und arbeitet als Wissenschaftler in der Flugzeugindustrie. Er kennt die offizielle russische Interpretation des Konflikts. «Wir haben keinen Streit, aber Spannungen gibt es schon. Denn wir sind zwischen die Fronten des Informationskriegs geraten. Das tut weh», sagt Bilyavska. «Am Ende ist mein Bruder immer ganz verzweifelt. Er sagt, er wisse nicht mehr, wem er glauben solle.»

Russland unter Druck setzen

Irina Bilyavska selbst weiss seit dem Beginn des Aufstands, wo sie steht: «Als ich von den massiven Menschenrechtsverletzungen auf dem Maidan erfuhr, konnte ich nicht mehr bloss die Neuigkeiten im Internet verfolgen», erzählt sie. «Ich fühlte Ohnmacht und Wut und suchte gleichgesinnte Menschen in der Schweiz, die bereit waren, etwas Konkretes zu tun. Unsere Aktionen geben mir Kraft und Energie.»

Jetzt trägt sie an ihrer Bluse eine blau-gelbe Schleife, die ukrainischen Nationalfarben, denn am Nachmittag will sie an einer Kundgebung der Interessengemeinschaft der UkrainerInnen in der Schweiz auf dem Zürcher Paradeplatz teilnehmen. «Wir fordern, dass die Banken ihre Geschäfte mit Putins Leuten einfrieren. Das Ziel ist, Wladimir Putins Aggression zu stoppen.» Die Schweiz habe zwar einige Konten mit Geldern des Janukowitsch-Clans blockiert. «Doch nun, da sich die Situation zuspitzt, sollte sie weitere ökonomische Massnahmen ergreifen, um nicht zum Schlupfloch für russische Oligarchen zu werden. Das wäre ein Weg, Russland empfindlich unter Druck zu setzen.»

Vom Bild, das das Schweizer Fernsehen und einige Zeitungen von der Ukraine zeichnen, ist Bilyavska enttäuscht. «Sie rücken Rechtsradikale, Nationalisten oder bewaffnete Provokateure in den Fokus. Es fehlen die Vertiefung der Themen und die gemeinsame Analyse mit Ukrainern.»

Irina Bilyavska ist in der Südukraine geboren, der Vater ist Russe, die Mutter Ukrainerin. Als Kind sprach sie Russisch. «Erst mit zwölf Jahren, als wir in die Westukraine zogen, lernte ich Ukrainisch. Dort leben viele Minderheiten zusammen: Ungaren, Rumänen, Ruthenen, Juden und Roma. Ich habe nie Diskriminierung erfahren. Russisch zu sprechen, war nie ein Problem.» Auch russischstämmige UkrainerInnen seien Teil der Bewegung gegen die Oligarchen und die korrupte Nomenklatura. «Es geht um mehr Selbstbestimmung und Demokratie, und es geht darum, dass die Söhne ukrainischer Familien im Süden nicht mehr auf Baustellen in Russland oder Polen ihr Geld verdienen müssen, sondern zu Hause arbeiten können.»

In Uschhorod, an der Westgrenze der Ukraine mit der EU, wurde sie Lehrerin und Übersetzerin für Russisch, Ukrainisch und Englisch. Sie arbeitete in einem Bildungs- und Kulturzentrum mit Minderheiten, später als Beraterin der Direktion für Entwicklungszusammenarbeit (Deza), die sich in der Gegend in Wasserschutz- und Waldwirtschaftsprojekten engagiert.

Platzt das Familienfest?

Bei ihrer Tätigkeit lernte Bilyavska ihren Mann Franz, einen Lehrer, kennen – und kam 2005 in die Schweiz. Zwei ihrer drei Söhne sind hier geboren. Sie wurde Schweizerin und stand schnell mitten im Einsiedler Alltag. «Meine Zukunft ist hier», sagt sie, «und das bedeutet für mich, dass ich mich hier engagiere.»

Heute arbeitet sie als Russischlehrerin. Im Vorstand der SP-Sektion Einsiedeln setzt sie sich besonders mit Steuergerechtigkeit auseinander. «In diesem Kanton werden immer mehr Leistungen für Arme, Kinder und Behinderte gestrichen.» Sie weiss, wovon sie spricht: Einer ihrer Söhne hat das Downsyndrom. Von den Fragen nach ihrem Hier und Jetzt schweift Irina Bilyavska immer wieder ab – in die Ukraine.

Ihre Familie trifft sich jedes Jahr in den Sommerferien in Uschhorod. Darauf freuten sich alle – bis jetzt. Nun ist nicht mehr klar, ob das Treffen noch möglich ist. «Die Eltern sorgen sich, ob mein Bruder mit seinem Moskauer Akzent noch heil durch die Ukraine fahren kann», sagt Bilyavska. «Das ist nur noch absurd.»

Sogar bei den Kindern wird der Konflikt fühlbar. «Vor ein paar Tagen habe ich über Skype den elfjährigen Sohn meines Bruders gefragt, ob er sich auf das Treffen freue», erzählt Bilyavska. Der Junge habe lange herumgedruckst – und nach vielem Nachfragen schliesslich gesagt: «Ich weiss nicht, ob wir kommen, Irina, bei euch schiesst man ja auf Russen.»