Virtual Reality: Futuristischer Ziegelstein als Brett vor dem Kopf

Nr. 19 –

Kommerzielle Renaissance oder wieder nur heisse Luft? Oculus Rift heisst die Brille, die den Traum von der virtuellen Realität neu aufflammen lässt.

In den letzten Wochen mehren sich im Netz die Stimmen von Menschen, die behaupten, sie hätten die Zukunft gesehen. Sie hätten eine fantastische Welt besucht, die sich jene armen Gestalten, die nicht vor Ort waren, nicht einmal ansatzweise vorstellen könnten. Sie behaupten, dass sie am Rand einer hohen Klippe standen, der Blick nach unten habe sie schwindeln lassen. Dann befanden sie sich auf einmal unter Wasser, auf Armeslänge einem Hai nahe kommend, nur um kurz darauf einen Spaziergang auf der kargen Oberfläche des Mars zu unternehmen, auf den Spuren des «Curiosity»-Rovers.

Dies sind nicht die Wahnträume von FieberpatientInnen, sondern die Augenzeugenberichte jener Early Adopters, die eine Virtual-Reality-Brille namens Oculus Rift testen durften. Das Gerät sieht aus wie eine Kreuzung aus Ziegelstein und Skibrille, und in seinem Inneren strahlen zwei kleine hochauflösende Bildschirme direkt vor den Augen der BenutzerInnen. Das hat den Effekt, dass die TrägerInnen, ganz egal, wohin sie blicken und wohin sie den Kopf wenden, niemals einen Bildrand sehen, sondern nur die Simulation, die die Brille gerade abspielt. In der schwarzen Schachtel vor den Augen sind ganze Welten versteckt.

Die Panik war echt

In der Videospielbranche gibt es ein Wort für das Gefühl, eine Spielwelt nicht nur zu sehen, sondern sich tatsächlich dort zu befinden: Präsenz. Trägt man die Brille, ist die Präsenz so stark, dass eine junge Frau eine veritable Panikattacke bekam, als sie auf der diesjährigen Digitalkonferenz South by Southwest in Austin (Texas) eine Spielversion der Erfolgsserie «Game of Thrones» mit einer Oculus-Rift-Brille ausprobierte. In der Simulation wurde sie in Sekundenschnelle auf eine über 200 Meter hohe Mauer katapultiert. Das Problem: Die Frau leidet unter Höhenangst.

Lange Zeit war Oculus Rift nur der Hardcore-Videospielgemeinde ein Begriff – bis Ende März Facebook die Firma Oculus, die die Brille produziert, für die Summe von zwei Milliarden Dollar übernahm. Nur eine Woche bevor der Facebook-Deal öffentlich wurde, stellte Sony auf der Videospielmesse Game Developers Conference in San Francisco seine eigene Brille vor. Gerüchten zufolge arbeiten Apple und Microsoft an ähnlichen Systemen, und natürlich gibt es auch noch Google Glass, eine Brille, die, wenn sie schon nicht Realität simuliert, diese doch mit zusätzlichen Informationen im Blickfeld der TrägerInnen anreichern will. Virtuelle Realität (VR), da sind sich KennerInnen der Branche spätestens jetzt einig, wird «das nächste grosse Ding».

Kein Wunder, dass Programmiererinnen, Investoren und andere berufsmässige ZukunftsoptimistInnen ins Schwärmen geraten, sobald von der Oculus Rift die Rede ist. Facebook-Gründer Mark Zuckerberg begründete die Akquise wie folgt: «Oculus hat die Chance, die sozialste Plattform aller Zeiten zu erschaffen und damit die Art und Weise zu verändern, wie wir arbeiten, spielen und kommunizieren.» Man fantasiert von «magischen Schulbussen», die eine ganze Klasse mal eben ins Florenz der Renaissance beamen könnten, von «luziden Träumen» und davon, dass sich durch die virtuelle Realität die Möglichkeit bietet, «die Atome dieser einen Welt hinter uns zu lassen».

Wie flüssiges Neon

Bei so viel Enthusiasmus kann man leicht vergessen, dass VR-Technik schon mehrfach angepriesen wurde, als wäre sie «zum Greifen nah». Und zwar so oft, dass sie unter InsiderInnen inzwischen einen schlechten Ruf hat. «Vaporware», sagt man dazu im Jargon.Frei übersetzt heisst das: Technologie, hinter der nur heisse Luft steckt. Vielleicht liegt das auch daran, dass VR eine vergleichsweise alte Utopie ist. Beschrieben wurde das Konzept schon in den achtziger Jahren, in Cyberpunkromanen wie William Gibsons stilbildendem «Neuromancer» (1984).

Die hyperrealistischen Bilder allerdings, die wir heute mit Computergrafik assoziieren und die man auch in der Oculus-Brille sieht, waren damals noch weit entfernt. Kein Wunder, dass die künstliche Welt in Gibsons Roman noch abstrakt ist. Programme und Dateien werden als geometrische Formen dargestellt, die in einem Gitternetz – der Matrix – manipulierbar sind. Als sich der Protagonist bei Gibson das erste Mal einloggt, heisst es im Roman: «Die Scheibe begann zu rotieren, immer schneller, wurde zu einer hellgrauen Kugel. Dehnte sich aus … Und strömte, erblühte für ihn. Wie ein Origamitrick in flüssigem Neon entfaltete sich seine distanzlose Heimat, sein Land, ein transparentes Schachbrett in 3D, das sich in die Unendlichkeit dehnte.» Und lachend spürt er «Tränen der Erleichterung», die sein Gesicht überströmen.

Freilich war die Idee der damaligen Hardware ein gutes Stück voraus. Ein Jahrzehnt nach «Neuromancer» aber galt die VR-Technologie dann schon einmal als «das nächste grosse Ding» – falls man das damals schon so nannte. In Spielhallen liessen sich die Menschen in kleine Gehege einsperren, damit sie angesichts der Computerwelten nicht ins Straucheln gerieten, sie setzten eine 3D-Brille auf und begannen, wild umherzufuchteln. Vielleicht meinten auch sie bereits, die Zukunft zu spüren.

Avatare zweiter Klasse

Zeitgleich mit dem Aufschwung der virtuellen Realität in den Spielhallen erdachte Neal Stephenson für seinen Roman «Snow Crash» (1992) das Metaverse, eine Virtual-Reality-Version des Internets. Bei Stephenson ist die virtuelle Realität ein idealisiertes Abbild der echten Welt: «Sie ist der Broadway des Metaverse. Die Strasse existiert eigentlich gar nicht. Dennoch gehen in diesem Augenblick Millionen Menschen darauf spazieren.» Himmel und Boden sind «schwarz, wie ein Computermonitor, auf den noch nichts gezeichnet worden ist; im Metaverse ist es immer Nacht, die Strasse immer grell und strahlend beleuchtet, wie ein von den Grenzen der Physik und Finanzen befreites Las Vegas.» Einen schönen digitalen Körper hat dort nur, wer echtes Kapital im echten Leben oder die Kontrolle über die Codes des Cyberspace besitzt. Die Mittelschicht hat eine grobkörnige Auflösung, und die Abbilder der ganz Armen flackern nur noch in Schwarzweiss – Avatare zweiter Klasse.

Angesichts der milliardenschweren Übernahme von Oculus durch Facebook sehen sich nicht wenige KritikerInnen an diese digitale Ständegesellschaft erinnert, wie sie Neal Stephenson damals in seinem Roman ausmalte. Schliesslich müssen die NutzerInnen des sozialen Netzwerks schon heute Geld bezahlen, um sicherzustellen, dass ein Statusupdate auch wirklich alle ihrer «FreundInnen» erreicht. Ansonsten entscheiden die Algorithmen, wer was zu sehen bekommt.

Die Strapazen des Virtuellen

Von der abstrakten Computergrafik zum hyperrealistischen Abbild der echten Welt: Die Vorstellung von der virtuellen Realität hat seit Gibsons «Neuromancer» einen mächtigen Sprung gemacht. Gewandelt hat sich aber auch, was wir damit anstellen werden: Ging es einst darum, aktiv Daten zu manipulieren, scheint es bei Oculus Rift auf passiven Medienkonsum hinauszulaufen. Aber wie Virtual Reality am Ende aussehen wird, weiss wohl noch nicht mal Mark Zuckerberg. Sicher ist bloss: Sie wird bestimmt nicht so aussehen wie in «Tron» (1982), dem Film, der die Vorstellung von ihr wohl am nachhaltigsten geprägt hat. Da werden die ProtagonistInnen ins Innere eines Computers gebeamt, und der Produktionsdesigner Syd Mead folgte dafür einer schlichten Analogie: Wenn digitale Daten schon mit gefühlter Lichtgeschwindigkeit durch die Leitungen rasen, dann müsste man sich in der virtuellen Umwelt wohl auch pfeilschnell entlang einer farbenprächtigen Transistorenskyline fortbewegen.

In Tests hat sich jedoch inzwischen herausgestellt, dass VR-Nutzende übermässig schnelle Bewegung als einigermassen strapaziös wahrnehmen. Zwar wurde die Oculus-Brille als Technologie für Videospiele konzipiert. Doch rasante Ego-Shooter, umherschwirrende Kugeln oder Weltraumsimulationen, so stellt sich jetzt heraus, sind wohl nicht die besten Anwendungen. Denn zumindest heute noch hat die Technik mit einigen Kinderkrankheiten zu kämpfen. Da ist zum Beispiel der unangenehme Nebeneffekt, dass Soll- und Istzustand der Körperwahrnehmung im Raum beim Blick durch die Brille voneinander abweichen. Das liegt daran, dass Sehnerv, Innenohr und Kleinhirn nicht synchron senden.

Mit anderen Worten: Menschen, die schon heute der Zukunft beiwohnen wollen, laufen Gefahr, dass ihnen speiübel wird.