«Reclaim Berlin»: In der Trendstadt wird es eng

Nr. 20 –

Berlin ist zur Mittelstandsmetropole geworden. Wie man die Stadt dennoch demokratisch mitgestalten kann, zeigt ein Sammelband.

«Arm, aber sexy» nannte Berlins Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) vor gut zehn Jahren seine Stadt. Dieses Image zieht. Berlin gilt als angesagt, aufregend, hip. Und der Boom scheint ungebrochen. Allein 2013 ist die Stadtbevölkerung um weitere 50 000 Menschen gewachsen.

Bei diesem Hype mag sich der umtriebige Sozialwissenschaftler und Stadtaktivist Andrej Holm nicht lange aufhalten. Für ihn ist Berlin, trotz Clubkultur und Internet-Start-ups, vor allem eins geblieben: «die Armutshauptstadt», in der jeder vierte Haushalt als arm gilt.

In seinem neuen Buch «Reclaim Berlin» versammelt Holm, den man in Zürich von seinen Vorträgen auf dem Labitzke-Areal kennt, rund ein Dutzend Artikel und mehrere Interviews, in denen Wissenschaftlerinnen und Aktivisten den «Berliner Zuständen» auf den Zahn fühlen und deren Konfliktlinien nachzeichnen.

Ein neuer Konflikt, der dem Boom direkt geschuldet ist, dreht sich um die 480 000 TouristInnen, die täglich durch Berlin strömen. Besonders die TouristInnen «neuen Typs» hätten zu reden gegeben, schreibt der Stadtforscher Johannes Novy in seinem Beitrag «Berlin does not love you». Diese erkunden Berlin «abseits der ausgetretenen Tourismuspfade» und befördern so eine Infrastruktur in den Kiezen, die auf ihre Bedürfnisse ausgerichtet ist.

Ähnlich wie den KünstlerInnen wird auch ihnen vorgeworfen, die Gentrifizierung anzutreiben und Berlin zu einem exklusiven Pflaster zu machen. Dabei ist das Dilemma der Kreativen ein altbekanntes: Sie tragen zwar massgeblich zur Attraktivität Berlins bei, vom Imagegewinn profitieren aber andere.

Neuer städtischer Mainstream

Solche Probleme kannte Berlin nach dem Fall der Mauer noch nicht. Es habe damals «unglaublich viele Möglichkeiten und Freiheiten gegeben», sagt Anja Gerlich vom Schokoladen e.V., einem Wohn- und Kulturprojekt, das aus der Besetzung eines Hauses 1990 in Berlin-Mitte hervorgegangen ist, im Gespräch mit Holm. Zeitweise über hundert besetzte Häuser zeugten in jenen Jahren von einer lebendigen autonomen Szene, vielfältigen subkulturellen Freiräumen – und vor allem «von der Abwesenheit jedweder immobilienwirtschaftlicher Verwertung».

Inzwischen ist viel passiert: Investoren aus der ganzen Welt bauten Berlin zur Hauptstadt um. Und die «Verwertungslogik», die Einzug in die Stadtentwicklung hielt, veränderte nicht nur das Gesicht der Stadt, sondern setzte auch der Häuserbewegung zu, von der nicht viel übrig geblieben ist, wie es im etwas uninspirierten Beitrag «Besetzen im 21. Jahrhundert» heisst.

Holm betont, der «Verdrängungsdruck» beschränke sich in Berlin längst nicht mehr auf einzelne Stadtteile wie den Prenzlauer Berg. Vielmehr sei Gentrifizierung zum «neuen städtischen Mainstream» geworden, der in der ganzen Innenstadt wirke, weshalb all jene mit wenig Geld nicht mehr einfach in ein «billigeres» Quartier ausweichen könnten.

Um 25 Prozent sind die Mieten in den letzten zehn Jahren gestiegen. Gegensteuer täte not. Doch die Stadt hat in den letzten Jahren rund die Hälfte des kommunalen Wohnungsbestands an private Investoren veräussert. Dadurch habe Berlin bezahlbaren Wohnraum verloren und auf fahrlässige Weise politischen Einfluss aus der Hand gegeben, kritisiert die Sozialwissenschaftlerin Sabina Uffer in ihrem Beitrag zum Immobilienmarkt.

Der Widerstand von MieterInnen sei zwar noch fragmentiert, Holm macht aber einen allgemeinen «Trend zur Selbstorganisation» aus. Im Buch stellt sich Kotti & Co vor, eine Kreuzberg MieterInneninitiative. Mit einem «Gecekondu» (türkisch für «über Nacht gebaut») haben die Leute von Kotti & Co am Kottbusser Tor im Mai 2012 ein offenes Protesthaus «jenseits von Szene-Identitäten und eindeutigen Zuschreibungen» geschaffen. Und auch auf der Strasse kämpfen sie lautstark für das Recht, in der Innenstadt zu bleiben und mitbestimmen zu können, was mit ihrer Stadt passiert.

Von den Schwierigkeiten, die Stadt unter den gegebenen Umständen mitzugestalten, wird in mehreren Beiträgen erzählt. Ob im Rahmen des Quartiermanagements, in Bürgerplattformen oder Ausschüssen, überall täten sich kritische Stimmen schwer, da diese Orte oft vor allem der Legitimation der aktuellen Stadtpolitik dienten, «die durch die eigene Teilnahme kaum zu beeinflussen ist», schreibt der Geograf Jan Dohnke. Er hat für den Sammelband den Widerstand gegen Mediaspree, das neue Zentrum der Berliner Medien- und Kreativindustrie, untersucht. Sein Fazit: Die Linke sollte besser Bündnisse «abseits der üblichen Schemata» schaffen und an eigenen Alternativen arbeiten.

Unscharfe Perspektiven

Andrej Holms Sammelband besticht durch genaue Analysen, mit denen am Beispiel Berlin greifbar wird, was hinter dem Schlagwort von der «neoliberalen Stadt» steckt, zu der auch umfassende Programme der Befriedung des öffentlichen Raums und der Aktivierung von ökonomisch Abgehängten gehören. Die Perspektiven der sozialen Kämpfe bleiben dagegen unscharf und führen mitunter zu Floskeln wie «Die Stadt von morgen liegt auf der Strasse». Trotzdem lohnt es sich, das Buch in die Hand zu nehmen – auch wenn es, dies die leise Enttäuschung, wenig Inspiration für die eigenen Kämpfe hergibt.

Andrej Holm (Hrsg.): Reclaim Berlin. Soziale Kämpfe 
in der neoliberalen Stadt. Assoziation A. Berlin 2014. 260 Seiten. Fr. 25.90