Comic-Drama: Alles in einem einzigen Rechteck

Nr. 21 –

Die Graphic Novel «Fun Home» war Alison Bechdels ebenso fulminante wie zärtliche Annäherung an den eigenen Vater. Im neusten Comic der US-Autorin ist jetzt die Mutter dran.

Eine Psychoanalyse bis ins Innerste: Die täglichen Telefonate der Tochter mit der Mutter erinnern an eine zwanghaft ins Erwachsenenleben hinein verlängerte Nabelschnur.

Man behandle Väter viel nachsichtiger als Mütter, hiess es noch ganz beiläufig in Alison Bechdels autobiografischem Comic «Fun Home». Wie wahr das ist, beweist sie mit ihrem neuen Band «Wer ist hier die Mutter?» gleich selbst. War «Fun Home» (2008) ein ebenso wildes wie zartes Porträt von Bechdels verstorbenem Vater, der seine Homo- oder Bisexualität fast ein Leben lang vor seinen Kindern und der Öffentlichkeit verborgen hatte, wird im neuen Buch die Beziehung zur Mutter nach allen Regeln der Psychoanalyse seziert.

Das Besteck zu ihrem Comic-Drama holt sich Alison Bechdel bei Sigmund Freud und der Objektbeziehungstheorie des britischen Kinderarzts und Psychoanalytikers Donald Winnicott, aber auch in den Romanen, Tagebüchern und Essays von Virginia Woolf und bei der Psychologin Alice Miller («Das Drama des begabten Kindes»). Dazu kommen eigene Tagebucheinträge, zahlreiche Therapiesitzungen, Träume und die täglichen Telefonate mit ihrer Mutter, die an eine zwanghaft ins Erwachsenenleben hinein verlängerte Nabelschnur erinnern – mit dem Unterschied, dass eher Konflikte denn Nährstoffe transportiert werden. Als konkrete Vorwürfe stehen im Raum: mütterlicher Liebesentzug (seit dem siebten Lebensjahr gab es keinen Gutenachtkuss mehr), Unnahbarkeit, ein anfängliches Unverständnis für die Homosexualität der Tochter sowie Widerstände gegen deren öffentliche Aufarbeitung der Familiengeschichte in Graphic Novels.

Auf einem Auge blind

Die Mischung von alledem ist so beeindruckend wie erschöpfend. «Wer ist hier die Mutter?» ist nicht nur eine erstaunlich detaillierte Einführung in Leben und Werk von Donald Winnicott, sondern auch der Versuch, Virginia Woolfs «Zum Leuchtturm» wortwörtlich nachzuzeichnen – mit den Mitgliedern der Familie Bechdel in den Rollen der Romanfiguren. Dabei geht Bechdels Identifikation mit Winnicott so weit, dass sie sich in einem abenteuerlichen therapeutischen Moment wünscht, der Psychiater wäre ihre Mutter.

Alles und jedeR wird in diesem psychoanalytischen Universum zu einem Zeichen für eine stets noch tiefer liegende Wahrheit. Wenn sich Alison beim Schneeschuhlaufen durch einen zurückschnellenden Ast am Auge verletzt und nun mit einer Augenklappe durch die Gegend läuft, bedeutet ihr das zuerst, dass sie beim Nachdenken über die Vergangenheit etwas übersehen hat. Schliesslich liest sie den an sich banalen Unfall als Bestrafung dafür, dass sie – im übertragenen Sinn – der Wahrheit über ihre Familie ins Auge geblickt hat.

Ähnlich wie etwa bei Daniel Clowes («Ghost World») und Harvey Pekar («American Splendor») erweist sich die Graphic Novel dabei als ideales Gefäss für die ganz normale Komplexität von Lebensgeschichten – für die Parallelwelten, die sich in der Erinnerung auftun, genauso wie für das Verdrängte und die Gedächtnislücken. In einem einzigen kleinen Rechteck kann alles gleichzeitig zum Ausdruck kommen: Die Sprechblase sagt das eine, eine Beschreibung eröffnet eine weitere Ebene, und das Bild – oder die Lücken darin – verrät nochmals etwas anderes. Gleichzeitig wirkt Bechdels Lebensgeschichte durch die vielen, oft auf einer einzigen Buchseite aufeinanderprallenden Zeitsprünge und Analyseebenen regelrecht zerstückelt.

Im Licht der Leselampen

Als roter Faden durch diese vielen Schichten dient deshalb weniger die Biografie der Autorin, sondern vielmehr ihre lebenslange Liebe zum Lesen. Alison Bechdel zeichnet ihr Alter Ego gern im Schein von Nachttisch- und Pultlampen oder mit einer Stirnlampe am Kopf über ein Buch gebeugt. Dieser Lichtstrahl der angelesenen Einsichten ist das Einzige, was die Nacht der Mutter-Tochter-Beziehung ein wenig erhellt. Und er ist auch eine beeindruckend klare und emphatische Absage an die intimen Geständnisse, die seit den «Konfessionen» von Augustinus oder Jean-Jacques Rousseau das Genre der Autobiografie im Innersten ausmachen.

Denn anstelle einer öffentlichen Beichte liefert Bechdel eine rigorose intellektuelle Analyse – mit leider nur raren Abstechern in den leichtfüssigen und schwarzen Aberwitz von «Fun Home». Ebenso fehlt die Durchschlagskraft von bestrickend einfachen Einfällen wie dem «Bechdeltest» aus einem ihrer frühen «Lesben-Comics», der Kinofilme danach befragt, ob in ihnen wenigstens ein Gespräch zwischen zwei Frauen vorkommt, das nicht von einem Mann handelt – ein simpler Test, den erschreckend viele Filme nicht bestehen. Nein, atemlos und kichernd verschlingen kann man «Wer ist hier die Mutter?» kaum. Aber die kompromisslose Klugheit und zigfach verspiegelte Selbstreflexion, mit der Alison Bechdel ihre eigene Biografie ausleuchtet, muss man auch hier bewundern.

Alison Bechdel: Wer ist hier die Mutter?. Aus dem Amerikanischen von Thomas Pletzinger und Tobias Schnettler. Kiepenheuer & Witsch. Köln 2014. 296 Seiten. 32 Franken