Türkei: Prügel, Tritte und Gratiskohle

Nr. 21 –

Die Reaktion des türkischen Ministerpräsidenten auf die Grubenkatastrophe von Soma hat im ganzen Land Demonstrationen ausgelöst. Andererseits kümmert sich keine Partei so sehr um die Armen wie seine AKP.

Der Minenarbeiter Taner Kurucu kann einem leidtun. Letzten Freitag war er in allen Zeitungen und auf allen Fernsehkanälen. Da berichtete er, wie Ministerpräsident Tayyip Erdogan bei seinem Besuch in Soma kurz nach dem Unglück vor wütenden Bergarbeitern und ihren Angehörigen in einen Supermarkt geflohen war. Taner Kurucu war in diesem Supermarkt – und plötzlich stand Erdogan vor ihm. «Der Ministerpräsident war wegen der Proteste gegen ihn sehr aufgebracht. Er hatte sich wohl nicht mehr in der Gewalt – und schlug mir ins Gesicht.» Zwei Tage später ist Taner Kurucu wieder überall in den Schlagzeilen: «Ich habe den Fernsehsendern an jenem Abend etwas Falsches gesagt. Ich bitte den Ministerpräsidenten um Entschuldigung. Er hat mich nicht geschlagen, er hat mich beschützt. Seine Bodyguards wollten auf mich los – und da machte er eine Handbewegung, um diese davon abzuhalten.»

«Meine Nation kennt diese Verleumder», putzte Erdogan am Montag bei seiner ersten Rede nach dem schwersten Minenunglück in der Geschichte der Türkei alle KritikerInnen ab. Die Arbeitssicherheitsgesetze entsprächen dem Standard der Europäischen Union, ergänzte der Arbeitsminister Faruk Celik, und der Sprecher der AKP, Hüysein Celik, fügte hinzu: «Die Mine in Soma wurde seit 2009 elfmal von den zuständigen Stellen kontrolliert.»

Während die internationale Presse um Adjektive ringt, um ihre Fassungslosigkeit über die Reaktion der türkischen Regierung angesichts dieses Unglücks zu beschreiben, tritt Erdogan als Opfer auf, das sich aber nicht davon abhalten lässt, nun energisch durchzugreifen. Er hat ein Demonstrationsverbot für ganz Soma verhängt, rasche finanzielle Hilfe für die Angehörigen der Opfer verfügt – und Anfang der Woche sind gleich fünf Tageszeitungen mit derselben Überschrift erschienen: «Tag der Abrechnung!» Sie zeigten Bilder von fünf Verhafteten in Soma, die das Unglück mutmasslich mitzuverantworten hätten.

Billige Kohle fürs Wachstum

Ist das die Methode Erdogan? Einschüchterung von KritikerInnen, unverfrorenes Auftreten, begleitet von Polizeimassnahmen und einer Gleichschaltung der Presse?

Nein – aber man kann anhand der Kohlemine in Soma viel über Erdogans Politikverständnis erfahren. Tatsächlich hat er früh erkannt, dass ihm nur rasches und für alle spürbares wirtschaftliches Wachstum die Macht sichert. Das freie Unternehmertum fördern um jeden Preis ist seither das erste Ziel der AKP-Regierung. Eine wachsende Wirtschaft aber braucht Energie. Allein der Kohleverbrauch hat in der Türkei in den letzten zehn Jahren um 200 Prozent zugenommen. Damit profitables Wirtschaften möglich ist, müssen die Energiekosten gering bleiben. So wurde die einst staatliche Kohlemine in Soma privatisiert. Die Löhne wurden gesenkt, die Arbeitsbedingungen härter – und die Arbeitskosten pro Tonne geförderter Kohle sanken von 140 US-Dollar auf 24, schreibt Ahmet Sik, einer der kenntnisreichsten Kritiker der AKP. Er wollte ein Buch über die Methode Erdogan verfassen und sass dafür über ein Jahr im Gefängnis.

Bekämpfen können die Minenarbeiter die Verschlechterung ihrer Arbeitsbedingungen nur schwer. Die Gewerkschaftsgesetze aus der Zeit nach dem Militärputsch von 1980 gelten zum grössten Teil heute noch. Sie machen ein gemeinsames Handeln der Lohnabhängigen fast unmöglich. So gibt es 92 Einzelgewerkschaften – mit einem Organisationsgrad von gerade einmal gut neun Prozent aller Beschäftigten. Eine Gewerkschaft kann aber mit einem Unternehmen erst einen Gesamtarbeitsvertrag abschliessen, wenn ihr Organisationsgrad dort über fünfzig Prozent liegt.

Die Sozialprogramme der AKP

Alleinige Abnehmerin der Soma-Kohle ist übrigens die staatliche Kohleverwaltung. Die verteilt einen Teil der so eingekauften Ware kostenlos an die Armen. In den letzten zehn Jahren hat die Regierung fast achtzehn Millionen Tonnen Kohle an Bedürftige verteilt, zudem Kühlschränke und Lebensmittel – und das ist nur ein kleiner Teil ihres Sozialprogramms. 9,5 Millionen Geringverdienende haben eine sogenannte Greencard, mit der sie kostenlos medizinische Versorgung in Anspruch nehmen dürfen; zudem erhalten Witwen und Arbeitslose staatliche Unterstützung. Dafür hat die Regierung allein im letzten Jahr knapp eine Milliarde türkische Lira ausgegeben (umgerechnet 420 Millionen Franken).

Nach Angaben des Türkischen Amts für Statistik erhalten so rund zehn Millionen Menschen staatliche Hilfe – zum ersten Mal übrigens, denn tatsächlich ist die AKP-Regierung die erste, die sich der Mittellosen annimmt.

Gleichzeitig hat die staatliche Wohnungsbaugesellschaft im letzten Jahrzehnt rund 600 000  Wohnungen fertiggestellt. Auch diese werden nur an Familien mit geringem Einkommen verkauft – Kritiker sagen, nur an solche, die als AKP-AnhängerInnen bekannt sind. Egal, ob das stimmt: 600 000  Familien sind so über Kredite, die fünfzehn bis zwanzig Jahre laufen, an die staatliche Wohnungsbaugesellschaft gebunden.

Dieses Sozialprogramm ist neben dem Wirtschaftswachstum ein weiteres wichtiges Standbein, auf dem die Wahlsiege der AKP ruhen. Soziologen wie Ali Bulac kritisieren zwar, dass die Armen so nur in Abhängigkeit gehalten werden: «Man verteilt Fische, bringt aber niemandem bei, selbst Fische zu fangen.» Doch von den früheren Regierungen hatte sich keine der Armen angenommen, und es ist keine andere Partei in Sicht, die sich solche Sozialprogramme auf ihre Fahnen schreibt.

Wie weitverbreitet und drückend die Armut im Land sein kann, hat die Kohleminengesellschaft in Zonguldak am Wochenende per Bekanntmachung beleuchtet. In dieser Stadt am Schwarzen Meer kamen 1992 bei einem Grubenunglück 263 Bergleute ums Leben. Zurzeit werden dort 115 Minenarbeiter gesucht – 4000 haben sich auf die Stellen beworben.

Trotzdem frohlocken einige KommentatorInnen: So wie die Gezi-Proteste der Weckruf für einen Teil der Mittelschicht und die liberale Intelligenz des Landes gewesen seien, so werde die Reaktion der Regierung auf das Unglück zum Weckruf für die Arbeiter werden. Das ist eine sehr grosse Hoffnung. Erdogan seinerseits hofft, dass mit der Entschädigung der Angehörigen und einem medienwirksamen Prozess gegen mutmassliche Verursacher der Katastrophe die Tragödie nach und nach in Vergessenheit gerät. Wie lange dieser Prozess dauert – und was dabei ans Licht kommt –, ist ungewiss. Als im Dezember 2011 die türkische Luftwaffe versehentlich 35 Schmuggler im Südosten der Türkei zu Tode bombte, versprach die Regierung ebenfalls rückhaltlose Aufklärung. Bis heute ist unklar, wer damals den Befehl gab.

Mörderische Arbeit

Vergangenes Jahr ereigneten sich in der Türkei laut dem Arbeits- und Sozialministerium jeden Tag 172 Arbeitsunfälle.

Nach einem Bericht der Gesellschaft für Gesundheit und Arbeitssicherheit starben 2013 bei diesen Arbeitsunfällen 1237 Beschäftigte.

Einer Aufstellung der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) zufolge kommen in der Türkei statistisch gesehen pro 100 000  Beschäftigten 20,5 bei einem Arbeitsunfall ums Leben. Zum Vergleich: In Deutschland sind es 2,3, in der Schweiz 1,3.

Und das ist wahrscheinlich nur die halbe Wahrheit. Fast die Hälfte aller Beschäftigungsverhältnisse in der Türkei sind nicht registriert, Arbeitsunfälle dort werden nicht als solche erfasst.