Wirtschaftskrise in der Türkei: Wenn nicht mal die Eier noch bezahlbar sind
Teure Grundnahrungsmittel, exorbitante Mieten: Die Inflation macht den Menschen in der Türkei zu schaffen. Nun erlebt das Land eine Serie von Arbeitskämpfen.
Hunderttausende von Beschäftigten des öffentlichen Dienstes legten Mitte August in der Türkei für einen Tag ihre Arbeit nieder, weil es zu keiner Einigung bei den Tarifverhandlungen mit der Regierung gekommen war. In fast allen Provinzen, insbesondere in den Metropolen Ankara, Istanbul und Izmir, organisierten Streikende Proteste. In Ankara nahmen gemäss Berichten Zehntausende an einer Demonstration teil. In Izmir gingen 23 000 Personen auf die Strassen. Sie protestierten gegen das aus ihrer Sicht völlig unzureichende Lohnangebot der Regierung angesichts der anhaltend hohen Inflation. «Obwohl mein Mann und ich beide arbeiten, können wir uns kein Fleisch mehr leisten», erzählt am Telefon eine Frau, die bei den Demonstrationen dabei war. Sie will lieber anonym bleiben, um ihren Job nicht zu verlieren. «Wenn es so weitergeht, dann können wir bald auch unsere Stromrechnungen nicht mehr bezahlen. Alles wird teurer, wir arbeiten immer mehr und werden dennoch ärmer.»
Fast alle Gewerkschaftsverbände des öffentlichen Dienstes, selbst die regierungsnahen, hatten zum ersten Mal gemeinsam den Streik am 18. August organisiert. Betroffen von den Tarifverhandlungen sind rund sechs Millionen Angestellte. Der Streik hatte erhebliche Auswirkungen, insbesondere auf die türkische Post (PTT) und den Eisenbahnverkehr, zeitweise fuhren mancherorts überhaupt keine Züge mehr. Zuvor hatten die Generaldirektionen der Eisenbahnen und der PTT den Beschäftigten mitgeteilt, dass diese sich unter keinen Umständen an der Arbeitsniederlegung beteiligen dürften. Wer dies dennoch tue, müsse mit Disziplinarmassnahmen rechnen.
Marsch nach Ankara
Doch die Menschen ignorierten die Drohung. So kam es zum grössten Streik seit Januar 1991. Damals verweigerten zwei Millionen Personen aus Protest gegen die neoliberale Sparpolitik von Präsident Turgut Özal die Arbeit. Unter anderem organisierten nun Bergarbeiter in der am Schwarzen Meer gelegenen Stadt Zonguldak einen Marsch nach Ankara, an dem 90 000 Menschen teilnahmen. Weitere Tausende schlossen sich diesem unterwegs an. Anfang August plante die Bergarbeitergewerkschaft in verschiedenen Werken einen Streik. Die Regierung, die Miteigentümerin der Werke ist, verbot die Arbeitsniederlegung aber mit dem Argument, die nationale Sicherheit werde dadurch gestört.
Auch mit den Beschäftigten aus dem öffentlichen Dienst gab es bisher keine Einigung. Vergangene Woche zogen sich die zwei Gewerkschaften Kamu-Sen und Memur-Sen vom Verhandlungstisch zurück, weil ihnen die Angebote der Regierung nicht ausreichten. Wie es weitergeht, ist ungewiss.
Systemrelevant und prekär
Ebenfalls vergangene Woche legten rund 10 000 Angestellte der Sozialhilfe- und Solidaritätsstiftungen (SYDV) ihre Arbeit nieder. Die Beschäftigten dieser Einrichtungen versorgen besonders benachteiligte Menschen in Krisenzeiten, etwa während Pandemien oder nach Erdbeben. Sie verstehen sich als «stille Held:innen des Landes», die für ein geringes Gehalt systemrelevante Arbeit leisten. Die SYDV-Mitarbeitenden beklagen mangelnde Arbeitsplatzsicherheit und kaum Zugang zu Tarifverträgen, wie sie andernorts im öffentlichen Dienst Standard sind. Auch hier scheiterten die Verhandlungen. «Wir akzeptieren die vorgeschlagene Lohnpolitik und den zermürbenden Ansatz des Sozialministeriums in einer Phase, in der die Lebenshaltungskosten steigen und die Bevölkerung unter finanziellem Druck leidet, nicht», sagte Eyüp Alemdar, Vorsitzender der Gewerkschaft Koop-İş, und machte klar, dass weitere Streiks folgen sollen.
Die Türk:innen sind seit langem mit einer enormen Inflation konfrontiert. Das landeseigene Statistikinstitut meldete für Juli eine Inflationsrate von 33,5 Prozent. Das ist zwar der niedrigste Wert seit November 2021. Gemäss der unabhängigen Organisation Enflasyon Araştırma Grubu (Enag) beträgt sie allerdings fast doppelt so viel. Für die vergangenen Jahre ermittelte die Enag eine Geldentwertung von durchschnittlich über 100 Prozent – pro Jahr. Diese Zahlen kursieren jedoch nur in den sozialen Netzwerken und in den Kanälen der wenigen unabhängigen Medien.
Zurück zu den Eltern
Auch wenn die Inflation derzeit sinkt, steigen die Lebenshaltungskosten weiterhin stark an. Der Zugang zu erschwinglichen Nahrungsmitteln wird immer schwieriger. Innerhalb von fünf Jahren stieg der Preis für Eier um 829 Prozent. Im Oktober 2020 bekam man eine Packung mit dreissig Eiern für 14 türkische Lira; nun kostet sie 130. Der «Big-Mac-Index» zeigt, dass dieses McDonald’s-Produkt in der Türkei nun 5,59 US-Dollar kostet – fast so viel wie in den Vereinigten Staaten, obwohl dort das Einkommensniveau viel höher ist.
Auch im Immobiliensektor schiessen die Preise in die Höhe. So sind allein in Istanbul die Mieten innerhalb weniger Jahre teils um 800 Prozent gestiegen. Immer mehr Bewohner:innen ziehen deswegen aufs Land oder zurück zu ihren Eltern. Die neuste Gallup-Studie kommt zum Ergebnis, dass sechzig Prozent der Türk:innen Schwierigkeiten damit haben, sich finanziell über Wasser zu halten. Rund zwanzig Prozent leben in Armut.
Während die nominalen Preise laufend steigen, hinken die Löhne hinterher. Der staatliche Mindestlohn beträgt 22 000 türkische Lira, etwa 430 Franken. Die Kaufkraft der Bevölkerung hat sich verschlechtert. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei 16,2 Prozent. Die Gesamtarbeitslosenrate beträgt offiziell 8,6 Prozent. Besorgniserregend ist der deutliche Anstieg des «unterausgelasteten Arbeitskräftepotenzials». Dieses umfasst nicht nur registrierte Arbeitslose, sondern auch Personen in Teilzeitbeschäftigung sowie potenziell Arbeitswillige ohne aktive Jobsuche. Dieser Wert stieg im Juni um 1,8 Punkte auf 32,9 Prozent. Von der Arbeitslosigkeit betroffen sind eher Akademiker:innen. Arbeiter:innen, die sich für Dumpinglöhne beschäftigen lassen, werden mehr gebraucht.
Suizid aus Scham
Seit dem Beginn der Wirtschaftskrise im Jahr 2018 nimmt die Zahl der Freitode weiter zu. Im letzten Jahr wurden laut dem Statistikamt 4460 Suizide gemeldet – ein Rekordwert. 402 Personen nahmen sich demnach aus ökonomischen Gründen das Leben. Nur wenige Medien berichten darüber. Es sind Organe, die noch nicht von Regierungstreuen geleitet werden.
Nur 2019 informierten auch der Regierungspartei AKP nahestehende Medien über die Armutssuizide. Damals ging ein Aufschrei durch die sozialen Netzwerke. So schied in Antalya eine Familie mit zwei Kindern gemeinsam aus dem Leben. Der Vater hatte seit Monaten keine Arbeit gefunden und sich dafür geschämt. Kurz darauf vergifteten sich in Istanbul vier Brüder im Alter von 48 bis 60 Jahren. Sie hatten ihre Schulden beim Lebensmittelladen in der Nachbarschaft nicht mehr begleichen können.
Derweil schrumpft die türkische Mittelschicht. In den ersten fünf Monaten dieses Jahres meldeten 2000 kleinere und mittlere Unternehmen Insolvenz an – dreimal mehr als im Vorjahr. Eine Woche vor Schulbeginn sind die Eltern mit hohen Preisen konfrontiert. Die Stifte für den Unterricht, die Schultasche, die Uniform – alles ist teurer geworden. Die Eltern sehen sich dazu gezwungen, schon vor Schulbeginn Schulden zu machen.