Bankenplatz Schweiz: «Nein, die Krise ist nicht ausgestanden»

Nr. 23 –

Die Milliardenbussen, die Schweizer Banken wegen Beihilfe zur Steuerhinterziehung an die USA zahlen müssen, dürfen nicht von den Steuern abgezogen werden. Das fordert der in Zürich lehrende Finanzprofessor Marc Chesney. Und er plädiert für eine Reform des Bankenplatzes.

UBS und CS sind zu gross für die Schweiz, meint Finanzprofessor Marc Chesney.

WOZ: Herr Chesney, die Credit Suisse hat gegenüber den USA ein Schuldeingeständnis abgelegt und eine Busse von 2,8 Milliarden Dollar bezahlt; ein Dutzend weitere Schweizer Banken werden folgen. Wie hart trifft das den Bankenplatz?
Marc Chesney: Der Bankensektor ist seit der Finanzkrise 2008 bereits geschrumpft, dieser Prozess wird nun verstärkt. Das ist eine Konsequenz seines vorgängig übertriebenen riesigen Wachstums. Das Land braucht effiziente Banken, die ihre Kernaufgabe für die Realwirtschaft erfüllen. Die UBS und die Credit Suisse sind zu gross für die Schweiz.

Sprechen Sie von der Höhe der Bankenbilanzen?
Ja, aber auch vom Geschäft, das die Banken ausserhalb ihrer Bilanz betreiben. Bei der UBS und der Credit Suisse ist dieses Geschäft riesig! Wie gross es genau ist, weiss man nicht. Diese Intransparenz ist gefährlich und nicht akzeptabel.

Worin besteht dieses Geschäft?
Es sind vor allem Geschäfte mit Derivaten, also insbesondere Wetten auf künftige Kursentwicklungen, die sehr riskant sind. Und diese Risiken werden im Fall finanzieller Turbulenzen von uns Steuerzahlern getragen. Die UBS und die Credit Suisse sind «too big to fail». Das heisst, sie sind zu gross, als dass sie im Krisenfall bankrottgehen können, ohne die gesamte Wirtschaft in Mitleidenschaft zu ziehen.

Was wäre die Kernaufgabe einer Bank, die Sie angesprochen haben?
Sie besteht darin, rentable Investitionen der Realwirtschaft zu finanzieren. Im Fall der deutschen und französischen Grossbanken etwa machen jedoch die Kredite an Betriebe weniger als zwanzig Prozent ihrer Bilanz aus, in England weniger als zehn Prozent. Die Hypotheken an Haushalte betragen noch einmal zirka zehn bis fünfzehn Prozent. Die übrigen siebzig bis achtzig Prozent der Bilanz tragen zur Entwicklung eines Finanzcasinos bei. Und die ausserbilanziellen Geschäfte sind hier nicht einmal mit einberechnet! Die Grossbanken erfüllen ihre eigentliche Aufgabe immer weniger.

Die Credit Suisse wird voraussichtlich einen Teil der Busse von den Steuern abziehen können. Was halten Sie davon?
Das ist problematisch. Steuerabzüge sind oft für Berufskosten vorgesehen. Fällt die Busse, die die Credit Suisse wegen ihrer Beihilfe zur Steuerhinterziehung erhalten hat, unter eine Art Berufskosten? Nein. Sie ist die Folge eines Delikts. Oder sollen etwa Autofahrer ihre Parkbussen künftig von den Steuern abziehen können? Der Steuerabzug gälte auch für die anderen Banken, gegen die die USA vorgehen. Die öffentliche Hand würde dadurch viel Geld verlieren.

Vor allem Bürgerliche sehen die Verurteilung der Credit Suisse als Teil eines Finanzkriegs …
Es ist ein Finanzkrieg, ja. Die Schweiz hat mit dem Ende des Kalten Kriegs für die USA an geopolitischer Relevanz verloren. Nun demonstrieren sie ihre Macht. International wird über die Einführung des automatischen Informationsaustauschs von Bankdaten verhandelt. Leider schützen auch die USA ihre Steuerparadiese, etwa in Delaware. Informationen von dort zu erhalten, ist sehr schwierig. Alle Regierungen sprechen sich für eine strengere Regulierung der Finanzindustrie aus, doch sobald ihre nationalen Grossbanken betroffen sind, krebsen sie zurück. Der Schweiz fehlt es in diesem Kräftemessen an Verbündeten, sie ist isoliert.

Daran sind wir selbst schuld …
Ja, die Grossbanken haben einen grossen Anteil daran. Das Geschäft der Credit Suisse und der UBS mit US-amerikanischen Steuerhinterziehern war falsch und hat die Schweiz weiter isoliert.

Wo steht die Welt sechs Jahre nach Ausbruch der Finanzkrise?
Die Regierungen behaupten, die richtigen Massnahmen getroffen zu haben – oder in die richtige Richtung zu gehen. Doch wir stecken noch immer in der Krise. Weltweit sind rund dreissig Millionen Arbeitsplätze der Krise zum Opfer gefallen, die Schaffung einer gleich hohen Zahl neuer Arbeitsstellen lässt auf sich warten. Warum? Die Finanzlobby hat die Massnahmen, die tatsächlich hätten getroffen werden müssen, verhindert. Die Idee einer Finanztransaktionssteuer zum Beispiel droht zu versanden, und viele Grossbanken sind grösser als zuvor.

Was war falsch an den Massnahmen, die die Regierungen getroffen haben?
Statt die neoliberale Politik infrage zu stellen, die seit dreissig Jahren herrscht, glauben viele Regierungen, man habe noch nicht genug vom Gleichen getan: Banken werden gerettet, und die Unter- und die Mittelklasse geraten immer mehr unter Druck. In Wirtschaftsfragen scheint es keine demokratischen Alternativen mehr zu geben. Liberale, Konservative oder Sozialdemokraten: Am Ende machen sie alle dieselbe Politik. Die Bürger bleiben immer mehr der Urne fern, weil sie unzufrieden sind. In der Schweiz ist die Situation etwas besser, hier haben wir die direkte Demokratie.

Die öffentlichen Schulden in Europa sind seit 2008 weiter gestiegen, viele Immobilienmärkte gelten als überhitzt. Kommt es nochmals zum Crash?
Gut möglich. Einige Ökonomen sehen im Anstieg der Börsenkurse letztes Jahr ein Anzeichen dafür, dass die Krise überwunden ist. Aber Moment! Die Börse hat sich immer mehr von der Realwirtschaft abgekoppelt. Die Krise ist nicht ausgestanden. Es könnte noch schlimmer kommen.

Sie sehen also im Anstieg der Börsenkurse ein Anzeichen für eine neue Blase?
Ja. In den USA hat die Zentralbank viel Geld ins Finanzsystem gepumpt, indem sie Anleihen aufgekauft hat – die Europäische Zentralbank hat eine ähnliche Politik betrieben. Mit diesem Geld wurden Wertpapiere gekauft. Deshalb sind die Kurse gestiegen, nicht weil die Realwirtschaft an Fahrt gewonnen hat. Diese Politik kann nicht ewig fortgesetzt werden.

Wären die beiden Schweizer Grossbanken heute stabil genug, wenn es erneut zu einem Crash kommen sollte?
Nein, bei weitem nicht.

Nach der UBS-Rettung 2008 hat die Schweiz beschlossen, die Banken zu mehr Eigenkapital zu zwingen, die UBS hat ihr Investmentbanking etwas heruntergefahren.
Das ist ein Schritt in die richtige Richtung, doch es ist nicht genug. Die Banken brauchen nicht bloss drei oder vier Prozent Eigenkapital, die sogenannte Leverage Ratio sollte zwanzig oder dreissig Prozent betragen. Die Grossbanken haben aus der Krise gelernt – nämlich, dass sie auf Kosten der Gesellschaft Risiken eingehen können. Genau das tun sie weltweit wieder mit ihren riesigen Schulden. Es braucht entschiedene Massnahmen.

Welche?
Neben der Erhöhung des Eigenkapitals braucht es zum Beispiel eine Zertifizierung der Finanzprodukte. Die Medikamente, die wir kaufen, wenn wir krank sind, werden überprüft. Dieselbe Kontrolle sollte es für Finanzprodukte geben. Wie kann es sein, dass es bis heute erlaubt ist, toxische Derivate zu verkaufen? Dann braucht es ein Trennbankensystem, so wie es die USA mit dem Glass-Steagall Act hatten, bevor dieser 1999 abgeschafft wurde. Damit würde das Depotgeschäft vom riskanten Investmentbanking getrennt. Diejenigen, die im Investmentbanking Casino spielen, sollen das nicht mit unserem Geld tun.

Eine kleine Bank, die Hypotheken vergibt, ist aber auch nicht sicher. Die Nationalbank warnt seit Monaten vor einer Immobilienblase …
Das grundlegende Geschäftsmodell bleibt jedoch simpel: Wir bringen unsere Löhne auf die Depotbank, die die Aufgabe hat, damit die rentablen Investitionen der Unternehmen zu finanzieren oder Hypotheken für Haushalte, die Wohneigentum kaufen. Eine weitere Massnahme wäre die Verkleinerung der Grossbanken, damit sie, falls sie bankrottgehen, nicht der gesamten Wirtschaft schaden. Was wäre geschehen, wenn die Credit Suisse zehn Milliarden Dollar hätte zahlen müssen, wie dies nun vielleicht die BNP Paribas muss?

Wäre sie dazu in der Lage gewesen?
Wahrscheinlich ja. Trotzdem wäre sie in eine problematische Lage gekommen. Die Grossbanken sind so intransparent und komplex geworden, dass eine klare Schätzung der Auswirkungen einer solchen Busse praktisch unmöglich ist. Dass der Bund 1998 der Schweizerischen Bankgesellschaft und dem Bankverein zu fusionieren erlaubt hat, war meines Erachtens ein Fehler. Die UBS ist viel zu gross. Wir brauchen kleinere Banken, die fit sind und für ihre Geschäfte die Verantwortung übernehmen. Wenn die Banken wissen, dass sie bankrottgehen können, werden sie sich jedes riskante Geschäft zweimal überlegen.

Stattdessen gehen die Fusionen weiter.
Ja, das ist ein Problem.

Anfang 2015 kommt die Bankenregulierung nochmals auf den Tisch, dann soll der Bundesrat einen Bericht vorlegen. Sehen Sie keine Anzeichen, dass das Parlament Massnahmen ergreift?
Leider noch nicht. Es ist paradox: Eine strengere und einfachere Bankenregulierung entspräche weltweit dem Interesse einer überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung, und trotzdem passiert nichts. Eine kleine Minderheit ist in der Lage, ihre Interessen der gesamten Gesellschaft aufzuzwingen.

Die bürgerliche Mehrheit in Bern will jedoch keine strengeren Regeln, und sie wurde von einer Mehrheit der Schweizer Bürger gewählt …
Die bürgerlichen Parteien berufen sich gerne auf den Liberalismus. Eines der wichtigsten Prinzipien des Liberalismus besagt: Diejenigen, die ein Risiko eingehen, haben es auch zu tragen. Sie haben die Verantwortung zu übernehmen. Die Grossbanken gehen jedoch Risiken ein, für die wir als Steuerzahler haften. Die Parteien sollten dies eigentlich bekämpfen.

Sie führen die Blockade der Politik zu einem grossen Teil auf die Bankenlobby zurück: Die Uni Zürich, an der Sie lehren, lässt sich ein ganzes Institut von der UBS finanzieren. Was halten Sie davon?
Akademische Freiheit ist mir wichtig! Wie kann sich ein Professor, dessen Lehrstuhl von einer Grossbank finanziert wird, kritisch über diese Bank äussern, wenn es angebracht wäre? Die Enthüllung der WOZ über die Finanzierung von Lehrstühlen durch Nestlé an der ETH Lausanne illustriert dieses Problem ebenfalls.

Ein Querdenker

Marc Chesney (54) ist Vizedirektor des Instituts für Banking und Finance der Universität Zürich, wo er als Finanzprofessor lehrt. Der Franzose, der an der Universität Sorbonne in Paris habilitiert hat, machte in letzter Zeit mit ungewöhnlich scharfer Kritik an der Finanzindustrie und der zunehmenden Einkommens- und Vermögensungleichheit von sich reden. Letzten Herbst stellte er sich unmissverständlich hinter die 1:12-Initiative, mit der die Lohnungleichheit bekämpft werden sollte. Diesen Monat erscheint sein Buch «Vom Grossen Krieg zur permanenten Krise. Der Aufstieg der Finanzaristokratie und das Versagen der Demokratie» (Versus-Verlag), in dem er Parallelen zwischen dem Vorabend des Ersten Weltkriegs 1914 und heute zieht.