Maria Rita: «Brasilien gleicht einem pfeifenden Dampfkochtopf»
Die brasilianische Sängerin Maria Rita ist in ihrer Heimat eine gefeierte Musikerin. Was die politische Lage in ihrem Land angeht, nimmt sie kein Blatt vor den Mund. Ein Gespräch über korrupte ParlamentarierInnen, brutale Polizisten und den Fluch der Fussball-WM.
WOZ: Senhora Rita, Ihre neue Platte «Coração a batucar» (Das Herz schlägt den Rhythmus) ist eine Hommage an den Samba, den wohl brasilianischsten Musikstil. Es heisst, man könne Brasilien ohne den Samba nicht verstehen.
Maria Rita: Das kann man tatsächlich nicht. Der Samba kam mit den Sklaven, steckt voller Geschichte und Geschichten, voller Witz, Sehnsucht und Widerstand. Anfang des 20. Jahrhunderts erfanden ihn die Schwarzen in den Favelas neu. Als er dann die Hügel herabkam, wurde er verboten, und die Polizei nahm die Musiker fest. Aber der Samba überlebte. Heute gibt es Songs, die kennt jeder, ob alt oder jung, reich oder arm. Sie sind so etwas wie der soziale Kitt Brasiliens. Im Samba steckt unsere kulturelle Identität, unsere Souveränität, er ist unsere Erfindung.
Sie haben nun einige politische Songs aufgenommen.
Es geht nicht mehr anders. Ich verspüre eine grosse Unruhe. Vielleicht habe ich das von meiner Mutter, vielleicht kommt es, weil ich selbst zweifache Mutter bin. Brasilien gehört zu den zwanzig ungerechtesten Ländern der Welt, wenn es um die Verteilung unseres immensen Wohlstands geht. In einem Land, in dem der Mindestlohn bei 293 Franken liegt, gönnen sich unsere Politiker über 8500 Franken im Monat an Abgeordnetenentschädigungen. Aber sie tragen nichts zur Verbesserung des Landes bei, unser Kongress ist einer der faulsten der Welt. Das ist eine richtige Verbrecherbande.
Sie nennen die Regierung eine Verbrecherbande?
Letztes Jahr wurden mehr als 220 Abgeordnete in Brasilia von der Justiz untersucht. Erst kürzlich wurde einer wegen Sklavenarbeit auf seiner Fazenda verurteilt – er war nicht der Erste. Glauben Sie, der tritt zurück? All das regt mich sehr auf. Ich habe mir gesagt, diese Dinge müssen jetzt raus, sonst werde ich verrückt. Ich glaube, dass man als Künstlerin ein Kanal ist. Ich will Diskussionen anregen. Wenn ich diese Rolle nicht spielen kann, fühle ich mich falsch.
In dem Song «Bola pra frente», den Ball nach vorne spielen, ermutigen Sie die junge brasilianische Protestbewegung.
(Maria Rita beginnt zu singen:) «Aufrichtig sein und nicht vor der Wirklichkeit fliehen, dem Leben ins Gesicht schauen, diesen Leuten zeigen, dass es anders, dass es besser wird …»
Die grossen Proteste letztes Jahr waren für Brasilien eine kleine Zeitenwende. Seit Jahren hatten die Brasilianer nicht mehr demonstriert. Nun gingen sie für bessere Schulen, Krankenhäuser, Busse und gegen die Korruption auf die Strasse. Haben Sie an diesen Protesten teilgenommen?
Ich war nicht dabei, aber ich habe einen Grund: Meine Tochter war gerade fünf Monate alt, und ich wollte nicht riskieren, dass ihre Mutter mit blauem Auge, einer gebrochenen Rippe oder vom Tränengas vernebelt nach Haus kommt. Die Militärpolizei ist in Rio ja bekannt für ihre Brutalität. Ich habe eine Entscheidung als Mutter getroffen. Aber ich habe damals viel mit meinem neunjährigen Sohn diskutiert. Er kam aus der Schule, und dort hatte einer behauptet, die Demonstranten seien Banditen. Das musste ich gerade rücken. So etwas kommt aus den Medien. Sie sind hier sehr manipulativ, und leider glauben viele Brasilianer, was im Fernsehen behauptet wird.
Andere Künstler haben keine so gute Ausrede. Das Schweigen der brasilianischen Künstler war auffällig.
Dafür habe ich mich geschämt. Keiner von uns hat Stellung bezogen oder sich auf einer Demo blicken lassen. Nur Caetano …
Sie meinen Caetano Veloso, den Liedermacher und legendären Begründer der einflussreichen Tropicalismo-Bewegung in den sechziger Jahren?
Ja. Caetano hat sich vermummt fotografieren lassen, um gegen das angedachte Vermummungsverbot zu protestieren. Aber das wars, und das Publikum hat das gespürt. Man kann das Schweigen nicht nur damit erklären, dass viele Künstler beim konservativen Globo-Konzern angestellt sind. Wir sind vor unserer gesellschaftlichen Verantwortung geflohen.
Warum wären Sie gerne bei den Protesten dabei gewesen?
Weil ich das Gefühl hatte, dass die Brasilianer aufgewacht sind. Sie haben festgestellt, dass Brasilien nicht das grossartige Land der Zukunft ist, von dem alle zehn Jahre lang geschwärmt haben. Brasilien liegt bei internationalen Bildungsvergleichen ganz hinten. Aber in der Kriminalitätsstatistik sind wir spitze. So etwas erschreckt mich. Es schlummert eine grosse Aggression in dieser Gesellschaft. Zum Beispiel beim Fussball, wenn schwarze Spieler als Affen beschimpft werden. Ich nehme das auch in Gesprächen wahr. Viele sind wütend, dass grosse wie kleine Verbrecher straffrei davonkommen. Gleichzeitig haben sie Angst vor der Polizei.
Angst vor der Polizei?
Wir wissen ja nie, ob ein Polizist nicht ein Verbrecher in Uniform ist. Unsere Sicherheitsorgane sind seit der Diktatur nie reformiert worden, sie sind schauderhaft. Auch deswegen nehmen einige Leute das Recht jetzt in die eigene Hand. Jeden Tag wird irgendwo in Brasilien ein vermeintlicher Dieb von Bürgern geschnappt, misshandelt und zur Schau gestellt. Wenn so etwas passiert, ist das extrem gefährlich. Brasilien gleicht einem pfeifenden Dampfkochtopf. Er steht kurz vor der Explosion. Pffft!
Steckt die Fussball-WM auch in diesem Dampfkochtopf?
Sie klemmt im Ventil fest und macht das «Pffft»! Ich glaube nicht an die Weltmeisterschaft. Klar, ich glaube an unser Nationalteam, die Seleção. Ich mag vor allem Neymar, sein Spiel hat noch etwas vom Tanz mit der Kugel, für den unser Fussball einst berühmt war. Mittlerweile ist das brasilianische Spiel leider auch stärker auf Effizienz ausgerichtet. Neymar ist noch von der alten Schule. Meine Sympathie für unsere Jungs ist also das eine …
Und das andere?
Das andere ist die Fussball-WM als Event. Die Veranstaltung wurde so katastrophal vorbereitet – das verheisst nichts Gutes. Wir haben 2007 bei den Panamerikanischen Spielen in Rio gesehen, dass so ein Event Steuergelder auffrisst, aber nicht unbedingt etwas Positives hinterlässt. Die Kosten für die Stadien sind ungeheuerlich. Unser Geld wurde in die Taschen von Bauunternehmern und Politikern umgeleitet. Aber wer braucht diese riesigen Stadien? Viertklassigen Fussballteams an Orten, in denen man viel eher Krankenhäuser hätte bauen sollen? Ich mag unsere Präsidentin Dilma Rousseff, ich habe sie gewählt, ich bin Anhängerin ihrer Arbeiterpartei PT. Meine Mutter hat während der Militärdiktatur mitgeholfen, die PT zu gründen. Aber ich stimme Dilma nicht zu, wenn sie sagt, dass dies die beste WM aller Zeiten werde. Ich glaube, Brasilien wird sich blamieren.
Das erzählt einem mittlerweile jeder Taxifahrer. Woran machen Sie das fest?
Es ist nichts richtig fertig geworden. Viele der versprochenen Infrastrukturprojekte wurden gestrichen oder sind noch im Bau. Niemand ist vorbereitet, keiner spricht Englisch, nichts ist ausgeschildert. Es wird ein Chaos. Wir Brasilianer sind das ja gewohnt. Für die ausländischen Besucher wird es eine neue Erfahrung sein.
Ihre Konzerte sind auch Grossveranstaltungen. Als Sie 2012 auf einer Open-Air-Tournee durch Brasiliens grösste Städte waren, kamen Hunderttausende Menschen, um Sie zu hören. Ich nehme an, Ihre Konzerte sind besser organisiert als die WM?
Wir versuchen das zumindest. Aber es kostet viel Schweiss. Einmal sollte ich in einer Stadt im brasilianischen Hinterland auftreten. Als ich in meiner Garderobe den Föhn einschaltete, brach die Stromversorgung im Viertel zusammen. Unser Techniker kam hereingestürzt. Er sagte, dass ich dem Stromnetz, das durch unsere Anlage schon überlastet war, den entscheidenden Rest gegeben hätte. Wir haben die Show dann mit der ständigen Angst vor einem Blackout über die Bühne gebracht. Alles hier ist Schweiss und Plackerei. Die Bezahlung kommt zu spät, der Generator trifft nicht ein. Am Ende jedes Konzerts atmen alle auf. Wieder eins geschafft.
In der vergangenen Dekade sprach man viel vom neuen Brasilien: vom Giganten, der aufgewacht, vom Land, dessen Zukunft endlich gekommen sei.
Ich bin in den letzten zwölf Jahren viel in Brasilien herumgekommen, viel mit dem Bus gereist. Was mir am stärksten aufgefallen ist: Ich sah Brasilianer, die assen, Brasilianer, die zur Schule gingen und arbeiteten. Das ist die grosse Errungenschaft der linken Regierungen von Lula und Dilma Rousseff. Sie haben vielen Menschen erstmals die Möglichkeit gegeben, sich zu entfalten. Einmal fuhr ich durch ein abgelegenes Gebiet im Nordosten, eine der elendesten Regionen des Landes, in der es Sklavenarbeit und Hunger gab. Ich sah Menschen, die lächelten. Der Hunger war verschwunden. Das ist der grosse Unterschied. Es gibt auf einmal eine untere Mittelschicht.
Maria Rita : Das Erbe der Mutter
Maria Rita (36) ist in Brasilien eine gefeierte Musikerin. Lange hat sie sich dem Singen verweigert – sie wollte nicht in die Fussstapfen ihrer Mutter Elis Regina treten. Elis Regina, die mit nur 36 Jahren durch Kokain und Alkoholmissbrauch starb, gilt bis heute als grösste Sängerin Brasiliens – eine Symbolfigur, die gegen die Militärdiktatur angesungen hatte, dafür auch verhaftet, eingeschüchtert worden war.
Maria Rita war vier Jahre alt, als ihre Mutter starb. «Ihr Tod war ein Trauma für mich», sagt sie heute. «Ich erinnere mich an unsere Appartements, an die Gardinen, aber nicht an sie.» Mit neunzehn sang Maria Rita erstmals spontan unter Freunden einen der bekanntesten Protestsongs ihrer Mutter und spürte, wie auch sie andere berühren kann. Musikerin geworden ist sie deshalb nicht gleich. «Ich habe mir Zeit gelassen. Aber am Ende war klar, dass etwas in mir war, das mit aller Macht hinausdrängte und das ich nicht länger unterdrücken durfte.»
Ihre erste CD, «Maria Rita», nahm sie 2003 mit 24 Jahren auf. Das Debütalbum verkaufte sich auf Anhieb über eine halbe Million Mal in der ganzen Welt und brachte ihr den Latin Grammy in gleich drei Kategorien ein: «Maria Rita» galt als bestes Album, die Sängerin selbst als Entdeckung des Jahres und als beste brasilianische Sängerin. «Es wäre eine Lüge zu sagen, dass der Erfolg aus dem Nichts kam», sagt sie. «Natürlich wollten viele Elis Regina in mir wiederfinden. Andere wollten mich umbringen, weil ich Elis Regina in mir gefunden hatte.» Bis Maria Rita schliesslich mit den Songs ihrer Mutter auf Tournee ging, sollte es aber noch bis 2012 dauern.
Philipp Lichterbeck