Najem Wali: «Diktatoren sind wie Frankenstein. Am Ende bleibt ihr Labor zurück»

Nr. 25 –

Schriftsteller Najem Wali erzählt in seinem Roman «Bagdad Marlboro», was die Kriege im Irak mit den Menschen angerichtet haben. Ein Gespräch über den Patriotismus als Droge, das Erstarken religiöser Gruppen – und das Erzählen als Überlebenshilfe.

Najem Wali: «Kriege hinterlassen ihre Spuren bei den Menschen und in der Gesellschaft»

WOZ: Herr Wali, Sie sind vor kurzem von einer Lesereise mit «Bagdad Marlboro», Ihrem neuen Roman, aus Bagdad zurück nach Berlin gekommen. Könnten Sie sich vorstellen, wieder in Ihrer Heimat zu leben?
Najem Wali: Ob ich für immer zurückkehren möchte, weiss ich nicht. Aber nach dieser Reise würde ich gerne einige Zeit da leben. So viele junge Menschen kannten meine Bücher und jubelten mir zu. Und trotz der Gefahr von Autobomben in den Peripherien Bagdads kamen sie aus ihren Stadtteilen, um an meiner Lesung teilzunehmen und mich zu treffen. Das war sehr berührend.

Die Originalausgabe Ihres Romans «Bagdad Marlboro» erschien in Beirut. Ist sie im Irak erhältlich?
Mein Roman kann im Irak gelesen werden, auch wenn er Kritik an den Machthabern enthält. Er wird sogar rezensiert. Die Regierungszeitungen kritisieren ihn natürlich und nennen mich einen Verräter. Diese Schreiber gehören zur alten Garde. Sie haben die Uniformen von Saddam Hussein gegen die religiösen Gewänder getauscht.

Bereits zu Beginn Ihres Romans nennen Sie all die Tugenden, die im Irak verschwunden sind. Haben die jahrzehntelangen Kriege das gesellschaftliche Zusammenleben zerstört?
Kriege hinterlassen ihre Spuren bei den Menschen und in der Gesellschaft. Wenn man überleben will, ist man zu jedem Verbrechen fähig, vom Betrug bis zum Mord. Die irakische Gesellschaft hat durch diese Kriege sehr gelitten. Das empfinden alle Iraker. Auch wir im Exil erzählen, wie unsere Familien, unsere Verwandten und Freunde traumatisiert wurden.

«Seit Ankunft der Amerikaner ist das ganze Land verrückt geworden», lassen Sie Ihren Protagonisten sagen. Begannen die ärgsten Verwüstungen erst mit der amerikanischen Besetzung?
Ich habe einmal vom frankensteinschen Labor gesprochen. Diktatoren sind wie Frankenstein. Und wenn sie weg sind, bleibt ihr Labor zurück, und alle Bösartigkeiten treten daraus hervor. Das erleben wir heute in Syrien, das haben wir in Libyen gemerkt. Und das geschah im Irak. Allerdings war es da sogar noch schlimmer, weil eine grosse Macht mit ihrer militärischen Kraft einmarschierte. Die Menschen verstanden, dass nur die Sprache der Gewalt die herrschende ist.

Sie lassen in Ihrem Roman keinen Zweifel daran, dass es der amerikanischen Besatzung nicht gelang, das Land zu befrieden …
Die Amerikaner kamen ohne Konzept und ohne Kenntnisse über das Land. Sie wussten nichts über den Irak. Das Erste, was sie taten, war, die Armee zu entlassen – ein schrecklicher Fehler. Die Armee hatte nie gegen die Amerikaner gekämpft. Sie bestand aus Bauern- und Arbeitersöhnen, die sich aus materieller Not zum Militärdienst entschlossen hatten. Nach ihrer Entlassung standen sie, ohnehin vom Iran-Irak-Krieg und vom Kuwaitkrieg traumatisiert, auch noch ohne Einkommen für ihre Familien mit ihren Waffen auf der Strasse. Jeder konnte sie rekrutieren. Für 200 Dollar konnte man eine Armee aufstellen. Das geschah auch. Der Bürgerkrieg von 2006 bis 2008 war ein grausames Phänomen.

Wie erklären Sie sich, dass auch die ersten freien Wahlen nach immerhin vierzig Jahren zu keiner Normalisierung der Lage geführt haben?
Für den Irak war es nicht wichtig, dass als Erstes Wahlen stattfanden. Viel wichtiger wäre es gewesen, die Infrastruktur aufzubauen und vielleicht eine zivile Übergangsregierung zustande zu bringen. Nach vier oder fünf Jahren hätte man Wahlen organisieren können. Wenn in einem Land, das jahrzehntelang unter diktatorischer Herrschaft stand und von der ganzen Welt abgeschottet war, die Regierung gestürzt wird, treten die religiösen Kräfte hervor. Genau das passierte im Irak. Es kamen die religiösen Gruppen, und sie fanden leichtes Futter.

Unterdessen befindet sich die islamistische Gruppe Islamischer Staat im Irak und in Syrien, Isis, die für einen sunnitischen Gottesstaat kämpft, auf dem Vormarsch in Richtung Bagdad. US-Präsident Barack Obama erwägt Drohnenangriffe gegen Isis. Was halten Sie davon?
Ich bin prinzipiell gegen jeden Drohneneinsatz. Wer Drohnen einsetzt, macht sich eines Verbrechens schuldig wie Isis. Die Erfahrungen, die wir mit Drohnen machten, bestanden nur darin, dass unschuldige Menschen getötet wurden. Was wir haben, ist eine politische Krise, keine militärische. Die USA sollten ihrem Verbündeten, Premierminister Nuri al-Maliki, sagen, dass er zurücktreten soll. An seiner Stelle sollte eine Regierung der nationalen Einheit als Rettungsversuch eingesetzt werden. Aber die grosse Macht USA kennt nur eine Sprache: Gewalt. Das ist entsetzlich. Das ganze Desaster, das wir haben, ist eine Folge der amerikanischen Politik.

Eigentlich müsste der Irak ein prosperierendes Land sein. Er verfügt über Erdöl, Wasser, fruchtbaren Boden. Aber seit Ihrer Flucht 1980 erlebte er nur Kriege, Bürgerkriege und Chaos. Warum kommt das Land nicht zur Ruhe?
Solange der Westen im Wohlstand leben will, gibt es für Länder wie den Irak, die reich an Bodenschätzen sind, keine Perspektive, ein Leben in Frieden und Würde zu führen. Nur die billige Ausnutzung der Rohstoffe an anderen Orten der Welt verschafft dem Westen Wohlstand. Daher kommt die Welt auch nicht zur Ruhe. Wenn der Westen sich vom wilden Kapitalismus verabschiedete, hätte man überall auf der Erde ein friedliches Leben. Aber das wird ein Traum bleiben.

«Nichts ist quälender als das Gefühl der Schuld», heisst es in «Bagdad Marlboro». Gibt es für diese Schuld, der sich Menschen in einem Krieg aussetzen, überhaupt keinen Ausweg?
Das ist in allen Kriegen das Dilemma: Entweder man kommt als Held unter die Erde oder lädt Schuld auf sich. Entziehen kann man sich der Tötungsmaschinerie nicht, auch wenn man nicht an ihr teilnehmen möchte. Mein Protagonist steht vor der Entscheidung, zu töten oder getötet zu werden. Einen anderen Ausweg hat er nicht.

Was im Roman besonders erschüttert, ist die Grausamkeit. Da werden Menschen gefoltert und lebendig begraben. Ist das die Normalität des Kriegs?
Da tun sich die menschlichen Abgründe auf, und die Angst tritt hervor. Das grausame Gebaren der Amerikaner offenbart nur, dass sie ihre Angst nicht bewältigen können. Sie dürfen nie ihre menschliche Seite zeigen. In den Augen fanatischer Militärs, die an den Krieg glauben, wäre das Schwäche. Und Schwäche darf man nicht zulassen. Das kennt man von allen Kriegen. Hinzu kommt der Hass.

Woher kommt dieser Hass?
Die schlimmste Droge ist der Patriotismus. Alle Kriege werden im Namen des Patriotismus geführt. Mit dieser Droge kann man viele Menschen betäuben. Und dann gehen sie hin und denken, sie würden ihre Grenzen, ihre Gesellschaft, ihre Werte verteidigen.

Und welche Rolle spielt die religiöse Komponente?
Der Patriotismus ist eine Religion. Offen sagt niemand, er kämpfe für die Religion. Das sagen nur die Al-Kaida-Leute von sich. Alle anderen reden von Patriotismus, oder man sagt, wie es die Europäische Union tut, «Friedensmission». Die Religion unterschlägt man.

Aber es handelt sich durchaus um religiöse Kriegszüge. Bis heute hat es die Menschheit nicht geschafft, sich von der Religion zu befreien. Nur: Wenn ich jetzt auf Karl Marx und seine Deutung der Religion als Opium des Volkes verweise, wird man das altmodisch nennen.

Ihr Roman enthält viele literarische Zitate und Verweise. Auch Dichter lassen Sie auftreten. Was vermag Dichtung in Zeiten des Kriegs?
Dichtung versorgt uns mit Träumen, und dank der Träume kann der Mensch überleben. Mit Träumen kann er Krisen, Hilflosigkeit und Angst bewältigen. Mein Dichter im Roman sammelt diese Träume. Er geht zu den Soldaten, die eingekesselt, verloren und einsam in den Gräben zittern und sich vor dem Sterben fürchten, und fragt sie nach ihren Wünschen für die Zeit nach dem Krieg. In einem Notizbuch hält er diese Wünsche fest.

Wie beurteilen Sie die Lage der irakischen Schriftsteller? Welche Rolle spielen sie heute im Land?
Ich kenne gute Schriftsteller, die jedoch zur Zeit von Saddam Hussein die innere Emigration vorzogen und sich von der Realität im Land abwandten. Sie schrieben über Themen aus der babylonischen oder sumerischen Zeit. Nach 2003 schwiegen sie gänzlich. Die Schriftsteller wiederum, die sich unter Saddam Hussein der Propaganda ergeben hatten, tun dies weiterhin. Sie propagieren die Heiligtümer der schiitischen Religion, weil diese die Macht im Land stellt. Durch den Wegfall der Zensur und die Freiheit, schreiben zu können, was man will, entsteht nicht automatisch gute Literatur.

Rückblenden und Geschichten in Geschichten in «Bagdad Marlboro» erinnern an «Tausendundeine Nacht». Sind diese Märchen ein literarisches Vorbild für Sie?
Ich liebe es, wenn eine Geschichte in eine andere übergeht und die Erzählung nicht linear verläuft. Insofern sehe ich mich in dieser Tradition, die viele Schriftsteller der Weltliteratur beeinflusst hat. Vor allem aber sehe ich mich in dieser Tradition, wenn das Erzählen zu einer Form des Überlebens gegen Tyrannei wird. Scheherazade schafft es durch das Erzählen, gegen einen grausamen König zu überleben. Nach 1001 Nacht hat sie drei Kinder von ihm, und er feiert seine Liebe zu ihr. Das ist der Sieg des Erzählens.

Najem Wali: Bagdad Marlboro. Aus dem Arabischen von Hartmut Fähndrich. Carl Hanser Verlag. München 2014. 352 Seiten. Fr. 29.90

«Bagdad Marlboro» : Ein Plädoyer für den Frieden

«Wieso aber tötet der Mensch?», fragt ein zwölfjähriger Junge im Roman «Bagdad Marlboro» des irakischen Schriftstellers Najem Wali. Und es ist die Frage, die einen während der gesamten Lektüre bedrängt. Najem Wali schildert die Traumatisierung der Soldaten und die Hilflosigkeit ihrer Umgebung. Weder Mütter noch Ehefrauen oder Geliebte vermögen die aus dem Krieg heimgekehrten Männer von ihrer Verzweiflung und ihren Schuldgefühlen zu befreien.

Der Krieg und seine Zerstörungen sind das grosse Thema von Najem Wali, 1956 im irakischen Basra geboren. Bereits sein erster Roman, der 1989 unter dem Titel «Der Krieg im Vergnügungsviertel» in deutscher Sprache herauskam, war eine entschiedene Ablehnung des Kriegs. Najem Wali selbst hatte sich geweigert, 1980 am Ersten Golfkrieg teilzunehmen und war nach Deutschland geflohen. Er studierte Germanistik in Hamburg und spanische Literatur in Madrid. 2004 zeichnete er in seinem Roman «Die Reise nach Tell al-Lahm» vor dem Hintergrund des Zweiten Golfkriegs ein verstörendes Bild der traumatisierten Menschen im Irak. Die vom Krieg zerstörte irakische Gesellschaft bestimmte 2008 auch den Roman «Jussifs Gesichter». Mit der Vertreibung der Juden aus dem Irak setzte sich Najem Wali 2011 in seinem Roman «Engel des Südens» kritisch auseinander.

«Bagdad Marlboro» beginnt mit dem Auftauchen des ehemaligen US-amerikanischen Leutnants Daniel Brooks. Er fand in der Wüste nahe der kuwaitisch-irakischen Grenze jenes Heft, in dem der Dichter Salman Mahdi einst an der Front die Träume und Wünsche der Soldaten gesammelt hatte. Der Roman greift weit aus und umfasst all die Jahre von Krieg und Gewalt, die mit dem Ersten Golfkrieg begannen und auch mit der Invasion der US-amerikanischen Truppen 2003 kein Ende fanden. Er erzählt von Freundschaft, Verrat und Schuld und von den unheilbaren Wunden, die der Krieg in den Seelen der Menschen geschlagen hat. Entstanden ist ein bewegendes Plädoyer für den Frieden, das Najem Wali dem Soldaten Bradley (heute Chelsea) Manning gewidmet hat. Dieser hatte über die Internetplattform Wikileaks bekannt gemacht, dass US-amerikanische Soldaten im Irak absichtlich ZivilistInnen erschossen hatten.

Ruth Renée Reif