USA: Mehr Wunsch als Denken
Der künftige US-Präsident Barack Obama steht in Zentralasien vor erheblichen Herausforderungen. Auf einen grundlegenden Wandel darf man nicht hoffen.
Am 4. Dezember hat die irakische Regierung dem Status of Forces Agreement (Sofa) über die Regelung der US-Militärpräsenz im Irak zugestimmt – allerdings mit beträchtlichen Vorbehalten, wie Ministerpräsident Nuri al-Maliki versichert. Der Abzug der US-Truppen ist jetzt klar auf 2011 festgelegt worden. Die irakische Regierung betrachtet das «klare Ultimatum für einen Truppenabzugs als Verhandlungssieg», vermeldete die Nachrichtenagentur Reuters. Die US-Regierung habe sich «lange jeglicher Zeitplanung für einen Truppenabzug widersetzt», sei aber in den vergangenen Monaten von ihrer harten Haltung abgewichen, da sie den irakischen Widerstand nicht zu brechen vermochte.
Laut Umfragen der USA lehnt eine grosse Mehrheit der IrakerInnen die militärische Präsenz der USA ab und ist der Ansicht, die US-Truppen würden die Situation nur verschlimmern, besonders mit ihrem Kampf gegen irakische Widerstandsgruppen. Auch der Nahost- und Sicherheitsexperte Steven Simon, der für das Monatsmagazin «Foreign Affairs» schreibt, ist der Meinung, dass die Strategie der Widerstandsbekämpfung von General David Petraeus nur jenen «drei traditionellen Kräften Aufwind verleiht, die seit Jahrzehnten die politische Stabilität im Nahen Osten bedrohen: dem Stammessystem, der Herrschaft von Kriegsherren und dem Sektierertum». Jeder Staat, der diese Kräfte nicht mehr zu kontrollieren vermochte, wurde in der Vergangenheit unregierbar – und genau dies drohe nun auch dem Irak.
Der Erfolg der irakischen Regierung in den Sofa-Verhandlungen ist allerdings die Folge eines langwierigen Widerstands gegen die Forderungen der US-InvasorInnen. So hatte sich Washington lange vehement gegen Wahlen im Irak gewehrt, und musste schliesslich doch nachgeben, da die Bevölkerung auf ihr demokratisches Recht bestand – symbolisiert in der Person des schiitischen Religionsführers Ali Sistani. Der Bush-Regierung gelang es danach, ihren eigenen Kandidaten, Dschalal Talabani, als Präsidenten einzusetzen. So konnte sie grossen Einfluss auf die irakische Regierung ausüben und gleichzeitig im ganzen Land Militärbasen auf- und ausbauen – inklusive einer «Botschaft», die eine eigene Stadt innerhalb von Bagdad darstellt. Dies alles geschah im Übrigen mit Unterstützung der Demokratischen Partei im US-Kongress. Sollten die InvasorInnen sich nun tatsächlich an die Abmachungen aus dem Sofa-Abkommen halten, so wäre dies ein Triumph des gewaltlosen Widerstands.
Das Sofa-Abkommen entspreche «der Vision des designierten US-Präsidenten Barack Obama», teilte ein Sprecher der irakischen Regierung mit – auch wenn Obamas Vision an sich relativ vage erscheint. Es ist anzunehmen, dass er die Forderungen der irakischen Regierung mehrheitlich erfüllen wird. Dies würde jedoch Änderungen im US-Plan nach sich ziehen, die Kontrolle über die enormen Erdölressourcen des Iraks beizubehalten und gleichzeitig die Vormachtstellung in der Region mit den weltweit grössten Energiereserven auszubauen.
Zurück nach Afghanistan
Um so seltsamer, dass laut Obamas sogenannter «Vision» die US-Truppen vom Irak nach Afghanistan verlegt werden sollten. Diese Haltung verleitete die «Washington Post» zu einer Nachhilfestunde: «Auch wenn die USA durchaus ein Interesse daran haben, das Wiedererstarken der afghanischen Taliban zu verhindern, so verblasst die geostrategische Bedeutung des Landes doch gegenüber jener des Iraks. Nicht in Afghanistan, sondern im Irak liegt das geopolitische Zentrum des Nahen Ostens – und einige der weltweit grössten Erdölreserven.»
Inzwischen haben auch die Kommandanten der Nato diese Realität erkannt. So hatte Nato-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer an einem Treffen im Juni 2007 die Mitgliedsstaaten darüber informiert, dass «Nato-Truppen jene Pipelines beschützen müssen, die Erdöl und Erdgas in den Westen transportieren». Zudem hätten sie die Tankerrouten zu überwachen und andere «für die Energieversorgung wichtige Infrastrukturen». Dies gilt vermutlich auch für die 7,6-Milliarden-US-Dollar teure Tapi-Pipeline, die Erdgas vom zentralasiatischen Turkmenistan nach Pakistan und Indien transportieren soll – und dabei durch das Gebiet der afghanischen Kandahar-Provinz führen soll, wo kanadische Truppen stationiert sind.
Das Ziel sei es wohl, eine «konkurrenzierende Pipeline zu blockieren, die Erdgas aus dem Iran nach Pakistan und Indien transportieren würde», schrieb der «Toronto Globe and Mail» und skizzierte damit gleichzeitig einige der wahren Hintergründe des «grossen Spiels». Denn durch diesen Schritt könnte der «Einfluss von Russland auf die zentralasiatischen Energieexporte verringert werden».
Kurz nach den Wahlen in den USA schrieb die «New York Times», dass Obama die bis dahin geheime Strategie der Bush-Regierung unterstütze, nach der verdächtigte Führer der al-Kaida in Ländern angegriffen werden sollten, in denen die USA (noch) nicht einmarschiert sind.
Die Folgen dieser Doktrin sind am 26. Oktober einmal mehr ins öffentliche Bewusstsein geraten: Die US-Truppen hatten von ihren Stützpunkten im Irak aus – angeblich um einen Anführer der al-Kaida gefangen zu nehmen – einen Angriff gegen Syrien geführt, bei dem acht ZivilistInnen getötet wurden. Washington hielt es nicht für notwendig, die irakische Regierung zu informieren, die mit Syrien relativ freundschaftliche Beziehungen pflegt.
Kein Wort gegen Drohnen
Die syrische Regierung protestierte scharf gegen den Angriff und fügte glaubhaft hinzu, dass sie nur zu gerne bei der Festnahme des Feindes geholfen hätte, wenn sie informiert worden wäre. Laut «Asia Times» war die irakische Regierung zutiefst verärgert. Sie verhärtete ihre Position in den Sofa-Verhandlungen und bestand nun darauf, dass von ihrem Territorium aus keine weiteren Angriffe auf Nachbarländer stattfinden dürfen.
Der Angriff in Syrien provozierte in der gesamten arabischen Welt harsche Reaktionen, die die «arrogante und hasserfüllte» Haltung der USA anklagten. Obama wiederum schwieg – genau wie andere US-DemokratInnen. Das lässt darauf schliessen, dass Obama wohl auch die weiterreichende Bush-Doktrin unterstützt, die den USA nicht nur das Recht zugesteht, frei nach Gutdünken in andere Staaten einzumarschieren, sondern auch jene anzugreifen, die in Washingtons Augen den Widerstand gegen die US-Aggressionen unterstützen.
Ein Beispiel dafür ist das Ausbleiben jeglicher Kritik vonseiten Obamas gegen die Angriffe mit Drohnen in Pakistan, die eine grosse Zahl von zivilen Opfern forderten. Dass dies Konsequenzen haben wird, ist nachvollziehbar, schliesslich haben Menschen im Allgemeinen die Angewohnheit, sich gegen das Abschlachten von Familienmitgliedern und Freunden zu wehren. Aus diesem Grund findet derzeit ein barbarischer Kleinkrieg im pakistanischen Stammesgebiet Bajaur an der afghanischen Grenze statt. Die BBC berichtete etwa von weitreichenden Zerstörungen, die von intensiven Kämpfen herrühren. Die Gründe für den Aufstand liegen laut BBC wohl bei einem US-Angriff auf eine islamische Schule im November 2006, bei dem über achtzig Menschen getötet wurden.
Am 3. November traf sich der gerade zum Kommandanten des US-Zentralkommandos ernannte General David Petraeus zum ersten Mal mit dem pakistanischen Präsidenten Asif Ali Zardari und dem Armeechef General Ashfaq Parvez Kayani. Deren Hauptanliegen betrafen die US-Raketenangriffe auf pakistanischem Territorium, deren Zahl sich in den vorangegangenen Wochen stark erhöht hatte. Eine «Fortsetzung der Angriffe mit Drohnen in Pakistan ist kontraproduktiv», informierte Zardari sein Gegenüber. Seine Regierung stehe unter «starkem Druck, auf die Angriffe aggressiver zu reagieren».
Petraeus nahm die Information zur Kenntnis und willigte ein, die pakistanische Meinung «bei der Planung der Angriffe mit zu berücksichtigen». Dass es sich dabei um mehr als eine Notwendigkeit handelt, zeigt die Tatsache, dass über achtzig Prozent des Nachschubs für die Truppen der USA und der Nato in Afghanistan via Pakistan transportiert werden.
Keine Fragen – keine Antworten
Seit den siebziger Jahren entwickelte Pakistan seine eigenen Atomwaffen. Das es das ohne viel Aufhebens machen konnte, kann das Land nicht zuletzt dem damaligen US-Präsidenten Ronald Reagan verdanken. Dieser hatte sich angesichts der Aktivitäten seines Alliierten auf beiden Augen blind gestellt – was allerdings nur ein Element in der «grosszügigen Unterstützung» für den «skrupellosen und rachsüchtigen» Diktator Mohammed Zia ul-Haq darstellte, wie es der Analyst Ahmed Rashid bezeichnet. Zia ul-Haq konnte so seine «langfristige und zerstörerische» Saat in der pakistanischen Gesellschaft pflanzen. Mit Reagans Rückendeckung hatte er der Bevölkerung einen «ideologischen islamistischen Staat aufgezwungen», der, so Rashid weiter, die «Wurzel von vielen der heutigen Probleme darstellt: die Militanz der religiösen Parteien, die Ausbreitung von islamistischen Schulen und extremistischen Gruppen, die Verbreitung der Drogen- und Kalaschnikow-Kultur, die Zunahme der sektiererischen Gewalt».
Laut Rashid hatte die Reagan-Regierung auch tatkräftig beim Ausbau des militärischen Nachrichtendienstes ISI der pakistanischen Armee mitgeholfen. Der ISI kontrollierte danach einerseits die pakistanische Politik und schürte gleichzeitig islamistische Aufstände in Kaschmir und Zentralasien. «Dieser von Zia und Reagan initiierte globale Dschihad legte die Saat für das Entstehen von al-Kaida und sollte Pakistan in den folgenden Jahrzehnten zum Zentrum des weltweiten Dschihad machen», sagt Rashid.
Seit September dieses Jahres haben nun die USA und Pakistan ein stillschweigendes Abkommen vereinbart, das die Angriffe mit Drohnen gegen «vermutete terroristische Stellungen» in Pakistan ermöglicht. Das Abkommen erlaubte es der US-Regierung, ihre Angriffe öffentlich zu dementieren, während die pakistanische Regierung gleichzeitig lautstark gegen die politisch problematischen Attacken protestieren kann.
Einen Tag bevor dieses Abkommen bekannt wurde, starben bei einem Selbstmordattentat in den umkämpften Stammesgebieten acht pakistanische Soldaten. Dabei handelte es sich um einen Vergeltungsschlag für den Angriff einer US-Drohne, bei dem zwanzig Personen ums Leben gekommen waren, darunter auch zwei Talibananführer. Dennoch fordert das pakistanische Parlament inzwischen einen Dialog mit den Taliban, und der pakistanische Aussenminister Shah Mehmood Qureshi sagte: «Es wird immer klarer, dass der Einsatz der Armee allein nicht zu den gewünschten Resultaten führen kann.»
Machbare Alternativen
Auch von anderer Seite werden Warnungen ausgesprochen. So schrieb die «Financial Times», dass es laut dem britischen Nato-Kommando im Afghanistankonflikt keine militärische Lösung gebe und dass Verhandlungen mit den Taliban unausweichlich seien – auch wenn dies zum Zwist mit den USA führen würde. Und Jason Burke, Nahostkorrespondent des britischen «Observer» berichtet, dass unter der Führung von Saudi-Arabien und mit Unterstützung von Britannien die «Taliban in geheimen Gesprächen zur Beendigung des Afghanistankonflikts und für einen weitreichenden Friedensprozess stehen».
Einige afghanische FriedensaktivistInnen stehen diesem Ansatz allerdings skeptisch gegenüber und ziehen eine Lösung ohne ausländische Einmischung vor. Tausende AktivistInnen und Intellektuelle forderten deshalb anlässlich einer «Friedens-Dschirga», eines nationalen Treffens im Mai, Verhandlungen und Aussöhnung mit den Taliban und kritisierten die «internationale Militärkampagne gegen islamistische Militante in Afghanistan». Auch Bakhtar Aminzai, der Interimsvorsitzende der Dschirga, nannte in seiner Eröffnungsrede «Gespräche die einzige Möglichkeit, eine Lösung zu finden».
Obwohl es schwierig ist, im kriegsversehrten Afghanistan brauchbare Umfragen zu machen, finden sich immer wieder erstaunliche Resultate. So glauben nur zwanzig Prozent der Befragten, dass «die Taliban die Oberhand gewinnen werden, wenn die ausländischen Truppen einmal abgezogen sind». Drei Viertel der Befragten unterstützen zudem Verhandlungen der Karzai-Regierung mit den Taliban, und mehr als die Hälfte befürwortet gar eine Koalitionsregierung. Entsprechend lehnt die grosse Mehrheit eine weitere Militarisierung des Konflikts durch die USA und die Nato ab und glaubt, dass mit anderen Methoden tatsächlich Frieden möglich sei.
Eine Umfrage des «Toronto Globe & Mail» unter den Taliban – wenn auch nach eigenen Aussagen nicht wissenschaftlich belegt – bietet zusätzlich Eindrückliches. Die Befragten waren Angehörige der Paschtunen, der grössten ethnischen Gruppe in Afghanistan, und stammten aus dem Gebiet von Kandahar. Sie bezeichneten sich selbst als Mudschaheddin, die der Tradition folgend die ausländischen Besetzer aus dem Land vertreiben wollten. Beinahe ein Drittel von ihnen gab an, in den vergangenen Jahren mindestens ein Familienmitglied durch Flugzeugangriffe verloren zu haben und dass sie vor allem die DorfbewohnerInnen vor weiteren Angriffen ausländischer Truppen beschützen wollten. Nur wenige bezogen sich auf den weltweiten Dschihad oder auf den Talibanführer Mullah Omar.
Vor diesem Hintergrund fordern auch ExpertInnen wie Barnett Rubin und Ahmed Rashid in «Foreign Affairs» eine Abkehr der bisherigen US-Strategie mit mehr Truppen und Angriffe in Pakistan, hin zu mehr diplomatischen Verhandlungen. Die Autoren warnen davor, dass der aktuelle militärische Fokus und der in seinem «Fahrwasser schwimmende Terrorismus» zu einem Zusammenbruch des Nuklearstaates Pakistan führen könnte, mit düsteren Konsequenzen. So appellieren sie an die künftige US-Regierung, der «zunehmend destruktiven Dynamik in der Region ein Ende zu setzen». Dies könne erreicht werden mit Verhandlungen, die die Interessen aller beteiligten Parteien in Afghanistan sowie in Pakistan und im Iran mit berücksichtige, genauso wie jene von Indien, China und Russland, die grosse «Vorbehalte gegenüber einer Nato-Basis innerhalb ihres Einflussgebiets haben». Das unmittelbare Ziel sollte heissen: «Die Gewalt in der Region verringern und die internationale Gemeinschaft hin zu einem echten Abkommen mit langfristigen Zielen führen.» Dies würde es Afghanistan ermöglichen, seine internen Probleme friedlich zu lösen.
Es scheint also durchaus Ansätze für machbare Alternativen und ein Ende des Kreislaufs der Gewalt zu geben. Nur leider erscheinen weder Afghanistan noch Pakistan im Programm zur Aussenpolitik auf Barack Obamas Website.
Beunruhigendes Verhalten
Umso prominenter erscheint allerdings der Iran. In Bezug auf den Iran unterstützt Obama eine harte, direkte und «bedingungslose» Diplomatie, um «den Iran zu zwingen, sein beunruhigendes Verhalten zu ändern». Im Klartext: sein Nuklearprogramm nicht weiter zu verfolgen und nicht länger den Terrorismus zu unterstützen (womit vermutlich die Unterstützung für Hamas und Hisbollah gemeint ist). Wenn der Iran sein beunruhigendes Verhalten ändere, so werden die USA Schritte unternehmen, die diplomatischen und wirtschaftlichen Beziehungen zu normalisieren. «Wenn nicht, so werden wir den wirtschaftlichen Druck erhöhen und die politische Isolation verschärfen.» Und weiter informierte Obama die israelische Lobby Aipac: «Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um zu verhindern, dass der Iran in den Besitz nuklearer Waffen kommt» – also auch einen Atomkrieg, wenn er denn meint, was er sagt.
Im Weiteren will Obama den Atomwaffensperrvertrag NPT stärken, sodass gegen «Staaten wie Nordkorea oder den Iran, die die Regeln brechen, automatisch schwere Sanktionen verhängt werden können». Keine Erwähnung findet allerdings die Schlussfolgerung der US-Geheimdienste, die überzeugt sind, dass der Iran seit fünf Jahren über kein nukleares Waffenprogramm verfügt – anders als die US-Alliierten Israel, Pakistan und Indien, die unter Missachtung des NPT mit direkter Unterstützung der USA umfassende nukleare Waffenprogramme entwickeln.
Viele ExpertInnen sind sich einig, dass der Iran ein Nuklearwaffenprogramm – wenn überhaupt – ausschliesslich zum Zweck der Abschreckung verfolgen würde. Dieses «strategische Ziel», wie es der frühere CIA-Waffeninspektor David Kay nennt, sei eine Reaktion auf die in «Teherans Augen durchaus ernst zu nehmende Bedrohung vonseiten der USA». Laut Kay seien die USA der «vermutlich grösste Aufwiegler» in der Region. Und Wayne White, ehemaliger stellvertretender Direktor für den Nahen Osten und Südasien im US-Aussenministerium, hält es für höchst unwahrscheinlich, dass der iranische Religionsführer Ajatollah Chamenei und die religiöse Machtelite ihren «enormen Reichtum» und ihr «gigantisches Wirtschaftsimperium» aufs Spiel setzen würden, nur um «Israel wegen weltfremder Ideale» mit einer Nuklearwaffe anzugreifen – wenn sie denn eine hätten.
White teilt ebenfalls die Einschätzung, dass der Iran durchaus den Besitz von waffentauglichem Uran (was nicht gleichbedeutend mit Nuklearwaffen ist) zum Zweck der Abschreckung anstrebt. Er erinnert aber auch daran, dass der Iran – wie es im Irak unter Saddam Hussein Anfang der achtziger Jahre der Fall gewesen sei – erst durch einen Angriff der USA oder durch Israel zu einem Atomwaffenprogramm getrieben werden könnte.
Vernunft als Sicherheit
Der führende neokonservative Iranexperte Reuel Marc Gerecht lieferte bereits im Jahr 2000 dafür die Argumente. Natürlich wolle Teheran Atomwaffen, und die Begründungen dafür seien einleuchtend: Der Iran wurde im ersten Golfkrieg mit Giftgas zur Kapitulation gezwungen; sein radikaler sunnitischer Nachbar Pakistan besitzt Atomwaffen; Saddam Hussein mit seinen Scud-Raketen und Ambitionen auf Massenvernichtungswaffen sitzt gleich um die Ecke; Irans glühendster religiöser Rivale Saudi-Arabien ist im Besitz von Langstreckenraketen; Russland, historisch einer der gefürchtetsten Nachbarn, ist einmal mehr dabei, seine Vorherrschaft im benachbarten Kaukasus zu bekräftigen; und auch Israel selbst könnte die Islamische Republik in Schutt und Asche legen.
Nachdem der Iran vom technisch überlegenen Irak besiegt worden sei und diese Erfahrung mit dem Leben einer halben Million Menschen bezahlt habe, kenne er die Folgen einer ungenügenden Abschreckung nur zu gut.
Gerecht hat aber auch das wahre «Sicherheitsproblem» durch mögliche iranische Atomwaffen präzise definiert: Eine mit Atomwaffen ausgestattete Islamische Republik würde den Handlungsspielraum der USA im Nahen Osten einschränken, wenn sie sie nicht gar schachmatt setzt. Wir würden es uns zweifellos sehr gut überlegen, auf iranischen Terrorismus oder Militäraktionen zu reagieren, wenn Teheran im Besitz der Bombe wäre. So gab es während des zweiten Golfkriegs unter dem Klerus in Teheran und Quom hitzige Debatten über das Für und Wider von Atomwaffen. Doch in einem waren sich die Mullahs einig: Wenn Saddam Hussein tatsächlich im Besitz von Nuklearwaffen gewesen wäre, hätten ihn die USA nicht angegriffen.
Die Meinung der US-amerikanischen Öffentlichkeit ist nahe jener von seriösen ExpertInnen und dem Rest der Welt – nur leider wird sie im Allgemeinen von der US-Regierung ignoriert. Eine grosse Mehrheit lehnt die Drohungen gegen den Iran ab. Die US-Bevölkerung geht auch mit den meisten Staaten der Welt einig, dass der Iran als Unterzeichner des Atomwaffensperrvertrags durchaus das Recht dazu hat, Uran zur Nutzung von nuklearer Energie anzureichern. Viel wichtiger ist in diesem Zusammenhang aber, dass die Öffentlichkeit hierzulande eine atomwaffenfreie Zone im Nahen Osten vorziehen würde.
Diese Überlegungen führen zu einem interessanten Gedankenexperiment: Wie würde die «Marke Obama» aussehen, wenn die US-amerikanische Öffentlichkeit wirklich daran «teilhaben» könnte, statt wie heute nur ein «aktiver Zuschauer» zu sein? Es wäre ein Experiment wert, denn es gibt gute Gründe zur Annahme, dass das Resultat zu einer gescheiteren und respektvolleren Welt führen könnte.
Happy Birthday, Mr. Chomsky!
Am Sonntag wurde Noam Chomsky achtzig Jahre alt. Der Linguistikprofessor am Massachusetts Institute of Technology (MIT) ist neben seinen aufsehenerregenden Studien im Bereich der Sprachwissenschaft vor allem durch sein politisches Engagement bekannt geworden. Der libertäre Sozialist zählt seit dem Vietnamkrieg zu den schärfsten Kritikern der US-Aussenpolitik. Daneben setzt er sich aber auch für die Meinungsfreiheit und gegen die Manipulationen der Mainstreammedien ein. Die «New York Times Book Review» bezeichnete Chomsky einmal als «wichtigsten Intellektuellen der Gegenwart». Noam Chomsky dazu in einer Rede, die im Film «Manufacturing Consent» zu sehen ist: «Man sollte von diesem Zitat auch den nächsten Satz lesen, dort heisst es nämlich: ‹Wenn dies der Fall ist, wie kann er dann solchen Unsinn über die amerikanische Aussenpolitik schreiben?› Dieser Zusatz wird nie zitiert. Aber um ehrlich zu sein: Gäbe es ihn nicht, würde ich glauben, ich mache etwas falsch.»
Der Anarchist und Analytiker
Er habe schon längst den Überblick über seine zahllosen Veröffentlichungen verloren, schrieb Noam Chomsky vor einiger Zeit in einer E-Mail an die WOZ. Wer mehr über den aktuellen Stand seiner zahllosen und in viele Sprachen übersetzten Publikationen wissen wolle, solle sich doch an Anthony Arnove wenden. Ansonsten habe er natürlich überhaupt nichts dagegen, wenn die WOZ einen seiner gerade in den USA erschienenen Texte abdrucke.
Diese Unübersichtlichkeit kommt nicht von ungefähr. Seit seiner ersten Sammlung politischer Schriften («Amerika und die neuen Mandarine», 1969 auf Deutsch noch im Suhrkamp-Verlag erschienen) hat Chomsky unzählige Texte über seine bahnbrechenden linguistischen Forschungen, vor allem aber die Mechanismen des US-Systems und die US-Aussenpolitik verfasst. Seine Analysen reichen von Vietnam über Indien, den Nahen Osten, Europa bis nach Lateinamerika - und kehren doch immer wieder zu der zentralen Frage zurück: Was können die, die so manches begriffen und interpretiert haben, tun, um die Dinge zu ändern? Und wollen sie das überhaupt?
In dem gerade erschienenen Sammelband «Die Verantwortlichkeit der Intellektuellen» (herausgegeben von Anthony Arnove) hat der Kunstmann-Verlag die vielleicht wichtigsten Essays von Chomsky neu editiert. Der Titel ist gut gewählt: Die meisten Intellektuellen, sagte Chomsky im WOZ-Interview anlässlich seiner Rede im Rahmen der WOZ-Veranstaltungsreihe «Schöne Neue Weltordnung» 1992 in Zürich, seien käuflich, beeinflussbar - und machtbesessen: Wenn sie durch Opposition nichts erreichen, wechseln sie einfach die Seite.
Chomsky beschreibt in dem Sammelband die Verstrickungen von Sprache und Macht, von Elite und Herrschaft, von US-Hegemonie und knallharten wirtschaftlichen Interessen. Das Buch versteckt auch Chomskys Bekenntnis zum Anarchismus nicht - eine Position, die in der auf den Staat fixierten Linken heutzutage leider viel zu wenig wahrgenommen wird.
Noam Chomsky: «Die Verantwortlichkeit der Intellektuellen. Zentrale Schriften zur Politik.» Antje Kunstmann Verlag. München 2008. 462 Seiten. Fr. 44.90.