Filmfestival Locarno : Kein Dach über dem Kopf
Fernand Melgars neuer Dokumentarfilm «L’Abri» porträtiert eine Notschlafstelle in Lausanne, der russische Spielfilm «Durak» von Juri Bykow erzählt von der korrupten russischen Gesellschaft. Beide kritisieren Systeme, die nicht funktionieren.
Wer darf rein, wer muss draussen bleiben? Diese Frage stellt sich im Winter jeden Abend am Eingang einer Notschlafstelle in Lausanne. Hauptsächlich obdachlose, abgewiesene Asylsuchende suchen hier Nacht für Nacht einen Unterschlupf. Wer ein Dach über dem Kopf bekommt, entscheidet das Personal scheinbar zufällig, Platz gibt es für fünfzig Personen, die Nachfrage ist jedoch oft grösser. Die heftigen Szenen am Eingang zeigt Fernand Melgar in seinem Dokumentarfilm «L’Abri», der vergangene Woche im Internationalen Wettbewerb in Locarno Premiere hatte.
Sehr nah dran
Wie bereits in «La Forteresse» (2008) und in «Vol spécial» (2011) porträtiert der Genfer Regisseur eine der Mühlen, in die MigrantInnen hierzulande geraten. Und wieder ist er sehr nah am Geschehen dran, hört hin, schaut zu und hält sich dabei als Filmemacher völlig im Hintergrund. Nie interviewt er seine ProtagonistInnen, und es spricht auch nie jemand direkt in die Kamera. Der grösste Teil des Films spielt vor und im «Bunker» – wie die BesucherInnen die unterirdische Notschlafstelle nennen. Wir sehen die engen Schlafräume, in denen die Schlafenden dicht beieinander schlafen, die Küche, in der gekocht, gestritten und gelacht wird, die Besprechungszimmer, in denen neue «Gäste» über die Regeln informiert werden. Überall sind die Wände gelb und der Boden grün.
Die MigrantInnen wirken mitunter wie ein Rudel, das auf der Suche nach einem Schlafplatz zu allem fähig ist. Das ist die Crux des Films, des unbeteiligten Blicks auf eine gesellschaftliche Realität: Während Melgar in seinen früheren Filmen eine Nähe zu den ProtagonistInnen schaffen konnte, fehlt diese hier. Persönliche Geschichten erfährt man kaum – und wenn, dann solche, die den rechten PolitikerInnen in die Hand spielen: zum Beispiel wenn ein Mann aus Mauretanien erzählt, dass er in seiner Heimat ein Geschäft hatte, aber als seine Freunde reich aus Europa zurückgekommen seien, habe er beschlossen, auch dahin zu gehen, oder wenn wir Romakinder in einem Gamecenter spielen sehen, während ihre Eltern am Betteln sind.
Melgar möchte natürlich, dass wir den Film anders sehen: als Kritik nämlich an der Schweiz und ihrem Asylwesen. Der «Bunker» steht dann exemplarisch für ein Land, in dem es genug Platz und Arbeit gibt, um den Menschen ein Leben in Würde zu ermöglichen – auch den MigrantInnen. Doch durch das System werden nur die wenigsten hereingelassen. Die anderen werden fallen gelassen, in den Untergrund gedrängt und ihrem eigenen Schicksal überlassen. Und dieses meint es meistens nicht gut mit ihnen: «Ich habe junge, hübsche Knaben wie dich ankommen sehen, und nach ein paar Monaten waren sie kaputt», sagt eine Mitarbeiterin zu einem Neuankömmling: «Geh so schnell wie möglich zurück zu deiner Familie.»
Neureich und korrupt
Mit «Durak» lief ein anderer Film im Wettbewerb, der aufzeigt, was mit Menschen aus der untersten sozialen Schicht passiert, wenn sie von der Politik vergessen werden. «Der Idiot», so die deutsche Übersetzung, von Juri Bykow gibt einen ungeschönten Einblick in den Zustand der russischen Gesellschaft: Korruption beherrscht den Alltag, und wer nicht klaut, betrügt oder lügt, hat kaum Überlebenschancen, ist eben: ein Idiot. Genau so einer ist der Klempner und Student Dima Nikitin (Artem Bystrow), der mit seinen Eltern, seiner Frau und seinem Sohn in einer engen Wohnung in einer russischen Kleinstadt lebt. Dima ist so aufrecht, dass sogar seine Mutter – grossartig dargestellt von der übergewichtigen Darstellerin Olga Samoshina – ihm immer wieder die Leviten liest.
Eines Tags wird er wegen eines Rohrbruchs in einen riesigen Wohnblock gerufen, der von Unterschichtangehörigen bewohnt wird. Mit Schrecken sieht Dima, dass das Haus einen klaffenden Riss durch die ganze Fassade hat. Nach kurzer Recherche zu Hause ist er überzeugt: In den nächsten 24 Stunden bricht das Haus zusammen. Mitten in der Nacht macht er sich auf die Suche nach den zuständigen PolitikerInnen, die eine Evakuation veranlassen sollten. Diese feiern gerade den Geburtstag der Stadtpräsidentin – von allen «Mamma» genannt –, und so landet Dima auf einem rauschenden Fest korrupter, neureicher und betrunkener PolitikerInnen. Und erhält Einblick in ein System, das von PolitikerInnen durchsetzt ist, für die ein Menschenleben nichts wert ist und die zu allem fähig sind, um sich selber zu bereichern. «Durak» ist ein eindrücklicher Film mit souveränen SchauspielerInnen, sorgfältig und ruhig geführter Kamera und einem rasanten Soundtrack. Und auch im Spielfilm meint es das Schicksal natürlich nicht gut mit dem Protagonisten.
Filmstart am 9. Oktober 2014.
Swiss Fiction Movement : Zur Überarbeitung zurückgestellt
Der Slogan klingt wie aus einer billigen Werbung geklaut: «Small Budgets, Young Talents, Big Fiction!», so titeln die jungen Filmschaffenden, die sich zum Swiss Fiction Movement verbündet haben, in ihrem Thesenpapier für eine stärkere Nachwuchsförderung in der Schweizer Filmpolitik. Ihre Idee aber ist bestechend: Mit jährlich bloss drei Millionen Franken mehr vom Bundesamt für Kultur, so rechnet die Gruppe vor, liessen sich pro Jahr zehn Spielfilme mehr produzieren.
Am Filmfestival in Locarno hat die Bewegung ihr Ansinnen erstmals der Öffentlichkeit präsentiert. Auf dem Podium sassen lauter Männer, darunter Samuel Schwarz («Mary & Johnny») und Peter Luisi, der auf der Piazza Grande seinen neuen Film «Schweizer Helden» zeigte. Als Sprecher der Gruppe versuchte Mirko Bischofberger mit einem ganzen Arsenal aus Statistiken zu Produktionsvolumen und Marktanteilen, die Forderungen zu untermauern. Dabei zeigte sich: Die Bewegung ist sich offenbar selbst nicht so ganz im Klaren, ob sie für den Nachwuchs einsteht oder einfach für eine kostengünstige Produktionsweise mit erhöhter Selbstausbeutung, unabhängig von Alter und Erfahrung. Kommt noch dazu: Ein Film darf von Gesetzes wegen höchstens zu siebzig Prozent mit Bundesgeldern finanziert sein. Wenn der Bund zehn Filme à 300 000 Franken vollumfänglich finanzieren soll, wie das der Gruppe vorschwebt, müsste man also erst die Verordnung über die Filmförderung ändern.
Ein mögliches Vorbild gibts übrigens im benachbarten Ausland: Die beim Bund angesiedelte «Kleine Filmförderung» in Österreich nährt seit über vierzig Jahren genau jenen Bodensatz des Low-Budget-Films, der in der Schweiz tatsächlich zwischen die Maschen des Fördersystems fällt. Bleibt zu hoffen, dass das Swiss Fiction Movement seine Argumente besser bündelt, bevor die rebellische Libido erlahmt, wie das Samuel Schwarz nennen würde. Es wär schade um die gute Idee.
Florian Keller