«Einsamkeit mit rollendem ‹r›»: Violette Küsse, tätowierte Nächte
Ilma Rakusa entwirft in ihrem neusten Erzählungsband Erinnerungs- und Sehnsuchtsorte.
«Wie geht das: im Leben eine Seite umwenden. Aussteigen, weggehen, auf nichts hoffen als auf die Richtigkeit der Entscheidung. Oder vielleicht heimlich auf eine Fügung hoffen, den ‹Moment der Gnade›.»
Den Ich-Erzählerinnnen in Ilma Rakusas Erzählungsband fehlt das Zeug, einfach die Brücken abzubrechen, sich auf Neues einzulassen ohne Plan. Sie sind die Fixsterne unter den Wandelnden und Wandernden, die auftauchen und wieder verschwinden in den vierzehn Geschichten, die von der titelgebenden «Einsamkeit mit rollendem ‹r›» zusammengehalten werden.
Da ist Katica, die Geigerin, die zusammen mit ihrer unternehmungslustigen Freundin Dóra die weiten Ebenen Ostungarns verlässt, «Bartók-Land», und «die müden westlichen Trottoirs begeigt». Die Ich-Erzählerin läuft ihr in einer dieser Metropolen zufällig über den Weg. Es entsteht eine Verbindung und Bindung, bis Katica plötzlich verschwindet: «Es zog sie hinaus, dahin wo wir verloren gehen. Wie mich. Ich spürte, dass sie das Glück der Verlorenheit ortete. Blume ohne Rand und Grund, fernoffen, Blume, Luftzug.»
Die Nadel nach Osten
Ähnliche Figuren entwirft die in Slowenien geborene und als Kind nach Zürich migrierte Autorin mit Marja oder Lou. Die aus Tambow an der Wolga stammende Marja mit den goldenen Händen und dem dritten Auge scheint unter dem «elefantengrauen Himmel» Berlins mit Paul eigentlich glücklich verheiratet, leichtfüssig tanzend verbringt sie ihre Zeit. Dann liest sie von den stalinistischen Säuberungen, und irgendwann ist sie nicht mehr da: «Man muss sein Leben ändern, oder nicht?»
Und da gibt es auch noch den Emporkömmling Steve aus Dorset, der seiner neuen Liebe die Stätten seiner Kindheit zeigt, mit einem rollenden «r» auf der Zunge, das, wenn auch anders, den OsteuropäerInnen aus dem Mund fällt: Juri, der am Fuss des Mont Ventoux Gedichte von Alphonse de Lamartine deklamiert, oder Orhan in Graz sein «r» wie ein «rollendes Maschinchen». Sam wiederum sehnt sich an den Pruth in Moldawien zurück und schenkt ersatzweise den aussterbenden Juden von Sarajewo sein Herz. Und Maurice zaubert weisse Skimäander in den Schnee und bricht mit seinen «violetten Küssen», die nach Veilchen schmecken, ein Mädchenherz.
Doch eigentlich sind es die Orte, Flüsse, Tiere oder «tätowierten Nächte», die in diesen Erzählungen die Hauptrolle spielen: als Wunsch- und Fluchtorte der ProtagonistInnen oder indem diese selbst deren Part übernehmen. Wie schon in ihrem mit «Erinnerungspassagen» untertitelten autobiografischen Bericht «Mehr Meer», für den Rakusa 2009 mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnet wurde, sind es auch in diesem Buch atmosphärisch verdichtete Sehnsuchtslandschaften, in denen sich die Autorin bewegt. Meist ist Rakusas Nadel nach Osten ausgerichtet, in den slowenischen Karst ihrer Kindheit oder auf einen russischen verschlafenen Herrgottswinkel. Sie begegnet aber auch einem Engel in dem kleinen Dörfchen Bondo im Engadin – «denn Engel wüssten, wie die Geschichten zu erzählen wären» – oder einigen nach Zürich geschwemmten Wahlschweizern, mit denen sie Kneipenerkundungen unternimmt, eine der schwächeren Erzählungen übrigens.
Der Himmel gross wie ein Zelt
In den besten Geschichten dagegen überzeugt Rakusa mit spinnwebfein hingetupften Beobachtungen, überraschenden Farb- und Geruchseindrücken und immer wieder poetisch starken oder zarten Bildern, der «muskulöse Fluss», die «quadratische Hitze» oder das Dorf, «eingemummt in wollenen, weissen Schlaf». Grundiert sind die Erzählungen von einer zurückgenommenen Melancholie, die vielleicht nur ausloten kann, wer wie Rakusa eine Wanderin zwischen den Kulturen und Welten ist. Dass die Ich-Erzählerin gelegentlich wie eine Reporterin wirkt, ist in diesem Fall kein Nachteil. Es braucht ja eine Instanz, die das Zerrissene, Verworfene dieser Existenzen bündelt und zurückwirft, wenn, wie es in «Koljansk», der letzten Erzählung, heisst, der «Himmel gross ist wie ein Zelt, mit Myriaden von Nachtsternen. Ihnen ist egal, welche Totenköpfchen unter der Erde liegen.» Rakusa begleitet diese Vergessenen in diskretem Abstand und lässt ihnen «den Moment der Gnade».
Ilma Rakusa: Einsamkeit mit rollendem ‹r›». Droschl Verlag. Wien 2014. 158 Seiten. Fr. 16.50