Gletscherschmelze: Die Bügel des Skilifts sind verheizt

Nr. 34 –

In fünfzig Jahren werden alle Gletscher der bolivianischen Anden verschwunden sein – den Millionenstädten La Paz und El Alto droht dadurch das Trinkwasser auszugehen.

Noch vor zehn Jahren gabs Werbung für «die höchste Skipiste der Welt»: Der schneefreie Chacaltayaberg oberhalb von El Alto und La Paz.

Die Talstation des Lifts liegt auf 5300 Metern Höhe, ganz vorne an einem scharfen Abgrund. Von hier aus geht der Blick über die Weite des 1300 Höhenmeter tiefer gelegenen Altiplano. Bei guter Sicht erkennt man einzelne Gehöfte, kleine Herden von Lamas und Schafen. In der Ferne flimmern die Wellblechdächer von El Alto, der Zwillingsstadt des bolivianischen Regierungssitzes La Paz. Die Stadt liegt dahinter, verborgen in einer tiefen Schlucht. Und ganz hinten am Horizont thront der 6439 Meter hohe, schneebedeckte Inti Illimani.

Es ist noch keine zehn Jahre her, dass im Tourismusbüro in La Paz eine Broschüre auslag, die Werbung machte für «die höchste Skipiste der Welt». Die Talstation auf dem Chacaltayaberg erreichte man über eine holprige Erdstrasse in eineinhalb Stunden. Von dort schleppte der Lift die SportlerInnen über den Chacaltayagletscher auf den 5395 Meter hohen Vorgipfel hinauf.

2001 hat hier das letzte Skirennen stattgefunden. 2010 ist der Gletscher endgültig verschwunden. Noch hängt das Stahlseil des Lifts über dem braunen steinigen Hang, auf dem nur ein paar kleine weisse Flecken vom letzten Schneeeinbruch liegen. Die Liftbügel sind längst verheizt, die Talstation verfällt, genauso wie die danebenstehende Schutzhütte, die der bolivianische Andenverein 1939 errichtete. «Der Tod des Chacaltaya ist der erste dokumentierte Fall eines verschwundenen tropischen Gletschers», sagt der bolivianische Klimaforscher Francesco Zaratti. «Er war immer klein, fast wie ein Kind, und wie das so ist bei Kindern: Wenn sie ernsthaft krank werden, sterben sie schneller als die Grossen.»

In trügerischer Sicherheit

Das Verschwinden des Chacaltaya ist nur ein erstes Signal, das nicht einmal mehr als Warnung genommen werden kann. Angesichts der zunehmenden Erderwärmung sei der Prozess selbst unter optimistischen Annahmen unumkehrbar, sagt Zaratti. In fünfzig Jahren, da ist sich der Wissenschaftler mit seinen FachkollegInnen einig, werden alle bolivianischen Gletscher dahingerafft sein. Und mit ihnen ein wichtiges Trinkwasserreservoir für die über zwei Millionen EinwohnerInnen von El Alto und La Paz.

Schon jetzt ist das Schmelzen der Gletscher dramatisch. Der bolivianische Gletscherforscher Álvaro Soruco fasst in einer 2012 veröffentlichten Studie den Stand der Wissenschaft zusammen, ergänzt durch eigene Messungen. Danach waren die Gletscher der bolivianischen Andenkette Cordillera Real lange stabil. Dann setzt 1975 das grosse Abschmelzen ein. In den folgenden dreissig Jahren haben die Gletscher 47 Prozent ihrer Oberfläche und sogar 53 Prozent ihres Volumens verloren.

Trotzdem hat das noch keine Auswirkungen auf die Trinkwasserversorgung von El Alto und La Paz: «Die Verkleinerung der Oberfläche wird durch das zunehmende Abschmelzen der Gletscher kompensiert», schreibt Soruco. Noch können sich die BewohnerInnen in – trügerischer – Sicherheit wiegen. Irgendwann aber sind die Eisflächen weg, und dann fehlen den beiden Städten im Jahresdurchschnitt zwölf Prozent ihres Wassers.

In der Feuchtperiode (Oktober bis März) scheint der Verlust mit neun Prozent noch verkraftbar. In der Trockenperiode aber (April bis September) sind die StädterInnen auf das Schmelzwasser der Gletscher angewiesen: Da werden ganze 25 Prozent fehlen. Soruco hat diese Prognose auf der Grundlage heutiger Niederschlagsmengen errechnet. KlimaforscherInnen gehen aber davon aus, dass es mit zunehmender Erderwärmung in Bolivien zwar heftiger, aber insgesamt weniger regnen und schneien wird.

Gleichzeitig nimmt die Zahl der vom knapper werdenden Wasser Abhängigen rasend zu: El Alto – eine ungeordnete riesige Fläche aus zwei- und dreigeschossigen Backsteinhäusern – ist die am schnellsten wachsende Stadt Lateinamerikas. Allein in den vergangenen zwanzig Jahren hat sich ihre EinwohnerInnenzahl auf gut eine Million verdoppelt. Und sie wächst weiter, mit einem durchschnittlichen Zuwachs von fünf Prozent im Jahr.

Der Weltklimarat (IPCC) ist sich einig, dass sich die Erdatmosphäre bis zum Ende des Jahrhunderts um rund vier Grad erwärmen wird. Dieser Durchschnittswert gilt für die bolivianische Hochebene und die Anden nicht. Im Inneren eines Kontinents, wissen KlimaforscherInnen, kann der Temperaturanstieg 1,5 bis 2 Mal so hoch liegen wie im weltweiten Schnitt. Bei Lagen über 3500 Metern Höhe muss der daraus errechnete Wert noch einmal mit mindestens 1,5 multipliziert werden. Für die Hochebene sind deshalb sieben bis zehn Grad mehr zu erwarten.

Und nicht nur die steigenden Temperaturen machen den Gletschern zu schaffen. Dazu kommt ein weiterer von Menschen gemachter Faktor: sogenannte Aerosole. Das für Eisflächen gefährlichste dieser kleinen Partikelchen in der Luft ist Russ. Er legt sich auf die Gletscherflächen und färbt sie dunkel ein. Sie können weniger Sonnenlicht reflektieren und absorbieren mehr Energie – mit der Folge, dass sie noch schneller abschmelzen.

Etwas unterhalb der Talstation des ehemaligen Chacaltayalifts liegt eine Messstation der staatlichen Universität von La Paz, in der seit sechzig Jahren kosmische Strahlungen registriert werden. In den vergangenen Jahren hat Zaratti dieses Labor zu einer Klimastation ausgebaut, der einzigen im gesamten Andenraum. Neben Gasen wie Ozon, Kohlenmonoxid und -dioxid werden dort auch Aerosole erfasst, man versucht, ihre Herkunft zu bestimmen. Vor einem Jahr ging Zaratti in Rente und hat die Station an seinen Nachfolger, Marcos Andrade, übergeben. Andrade sagt: «Wir wissen noch sehr wenig über den Alterungsprozess von Aerosolen, weshalb es sehr schwierig ist, ihren genauen Ursprung zu bestimmen.» Sicher aber sei, dass die Luft, die vom östlich gelegenen Tiefland des Amazonasbeckens auf den Chacaltaya geweht wird, am stärksten belastet ist. Konkreter werden will er nicht.

Zaratti aber nutzt die wissenschaftliche Freiheit des Rentners: «Die Russpartikel kommen zum Teil bis aus Paraguay, wo riesige Sojaplantagen nach der Ernte einfach abgefackelt werden», sagt er. Das sei billiger, als die Erde maschinell für die nächste Aussaat vorzubereiten.

Trinkwasser wäre zu retten

Dirk Hoffmann, Leiter des kleinen regierungsunabhängigen Instituto Boliviano de la Montaña beschäftigt sich seit Jahren mit dem Gletschersterben und hat wissenschaftliche Untersuchungen in einer Projektion zusammengefasst, wie es im Hochland zwischen La Paz und dem Titicacasee in Zukunft aussehen wird. Er geht davon aus, dass die Lage in fünfzehn Jahren zwar schwierig, aber noch beherrschbar sein wird. Landwirtschaft, Industrie und Trinkwasserversorgung müssten sich trotzdem auf schwere Zeiten einstellen.

Schon heute wird in der Trockenzeit in La Paz und El Alto das Wasser knapp, die Ernteerträge von Gemüse und einzelnen Kartoffelsorten auf dem Altiplano gehen bereits jetzt zurück. Wegen der höheren Temperaturen und der zunehmenden Verdunstung werde in Zukunft auch die Milchwirtschaft betroffen sein, denn die braucht viel Wasser für den Anbau des Viehfutters. Die Wasserkraftwerke am Osthang der Anden werden nicht mehr mit voller Kapazität Strom erzeugen können, was die Industrialisierung des Landes abbremsen wird.

Noch lasse sich das dann fehlende Wasser ersetzen, sagt Hoffmann: wenn jetzt neue Wasserspeicher gebaut würden. «Das aber ist in den vergangenen zwanzig Jahren nicht geschehen.» Wenn zudem im Leitungsnetz von El Alto die riesigen Verluste minimiert werden, die vor allem durch illegale Anschlüsse entstehen, könnte es reichen. Doch das ist nicht nur teuer, sondern auch politisch ein heikles Problem: In El Alto wohnen fast ausschliesslich Indígenas der Ethnie Aymara, der auch Präsident Evo Morales angehört. Hartes Durchgreifen kann sein wichtigstes Reservoir an WählerInnenstimmen gefährden.

Verteilungskonflikte drohen

In fünfzig Jahren, wenn alle Gletscher weg sind, wird die Lage dramatisch: Die Temperatur auf der Hochebene wird um vier bis sieben Grad gestiegen sein, der Wasserspiegel des Titicacasees – heute noch der grösste auf dem südamerikanischen Kontinent – wird wegen der schnelleren Verdunstung um vierzig Meter gesunken sein. Die Wasserfläche wird sich in zwei Hälften teilen. In der Trockenperiode werden alle Quellen versiegen, mit katastrophalen Folgen für die Landwirtschaft und die Wasserversorgung.

Auch für die Stromgewinnung werden teure Alternativen gesucht werden müssen. Die Zwillingsstadt La Paz/El Alto wird viel durstiger und hungriger sein; die EinwohnerInnenzahl wird sich nach derzeitigen Wachstumsraten in fünfzig Jahren verdoppelt haben. Es könnten sogar noch mehr Menschen werden, wenn immer mehr vom Land in die Stadt fliehen, weil Ackerbau und Viehzucht das Überleben nicht mehr sichern. Selbst neue Staubecken werden dann nicht mehr helfen.

Vor allem die Armen werden betroffen sein. Sie leiden am meisten unter den Preissteigerungen, die der dann nötige Import von Lebensmitteln zur Folge haben wird. Hoffmann rechnet mit wachsenden Zahlen von Klimaflüchtlingen und mit zunehmender chronischer Mangel- und Unterernährung: «Es wird zu enormen Verteilungskonflikten kommen.»

Hoffmann besucht die sterbenden Gletscher, wann immer er kann. Aus wissenschaftlichen Gründen, um Eis- und Schneeproben zu nehmen, aber auch aus Leidenschaft. Kurz bevor der Chacaltaya endgültig verschwand, war er noch einmal oben, mit seinen Skiern. Für mehr als einen Schwung hat es nicht mehr gereicht. Der letzte Rest der einst höchsten Skipiste der Welt war kaum mehr zwanzig Meter lang.

Düstere Prognosen

99 Prozent aller tropischen Gletscher liegen in den Anden; das fehlende Prozent ist in Afrika, auf dem Gipfel des Kilimandscharo. Seit Mitte der 1970er Jahre haben diese Gletscher zwischen dreissig und fünfzig Prozent ihrer Oberfläche verloren. Selbst die optimistischsten Prognosen gehen inzwischen davon aus, dass alle diese Gletscher im Jahr 2060 verschwunden sein werden.

Bislang war umstritten, wie viel der vom Menschen verursachte Klimawandel zur Gletscherschmelze beiträgt. Nun hat eine eben veröffentlichte Studie im Fachmagazin «Science» nachweisen können, dass der Mensch zunehmend dafür verantwortlich ist – in den letzten beiden Jahrzehnten sogar zu zwei Dritteln. Die Studie basiert auf den Daten des erst kürzlich erstellten Gletscherinventars «The Randolph Glacier Inventory», das sämtliche Gletscher weltweit erfasst. Mithilfe von Computersimulationen des Klimas hat das Team um den Innsbrucker Klimaforscher Ben Marzeion das Verhalten der Gletscher zwischen 1851 und 2010 modelliert und mit den realen Massenbilanzen der Gletscher verglichen.

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