GastarbeiterInnen in Katar: «Herzfehler» auf der Baustelle

Nr. 35 –

Hunderte NepalesInnen verlassen täglich ihr Land in der Hoffnung auf ein besseres Leben. In Katar bauen 400 000 von ihnen die Stadien für die Fussball-WM 2022. Statt in einem besseren Leben endet die Reise für viele mit dem Tod.

Einer von Hunderten: Angehörige eines in Katar ums Leben gekommenen Nepalesen bereiten in Kathmandu dessen Einäscherung vor.

«Er hat sich nie beschwert», sagt die 25-jährige Him Kumari Yongan, während sich ihre Augen mit Tränen füllen. «Nur manchmal hat er erwähnt, dass die Arbeit sehr hart sei.» Sie hält ihren dreijährigen Sohn im Arm und spricht über seinen Vater, ihren Ehemann, den sie beide nie wieder sehen werden. «Ich weiss nicht, was ich machen soll. Ich bin allein.»

Vor ein paar Wochen erhielt sie einen offiziellen Anruf vom katarischen Unternehmen, das ihren Mann angestellt hatte: Der 26-jährige Narabaj Tamang sei gestorben, hiess es. Nach Aussagen seiner Mitarbeiter sei er nach dem Essen ins Bett gegangen, wo sie ihn am nächsten Morgen tot vorgefunden hätten. Der Arztbericht vermerkt «Atembeschwerden» als Todesursache – was wirklich geschah, wird Yongan nie erfahren.

So dramatisch der Tod des jungen Nepalesen ist, er ist nur einer von Hunderten ähnlicher Fälle, in denen nepalesische GastarbeiterInnen während der Aufbauarbeiten für die Fifa-Weltmeisterschaft in Katar 2022 ums Leben kommen. Die Fussball-WM in Brasilien ist gerade erst vorbei, doch in Katar bauen bereits über 1,4 Millionen GastarbeiterInnen – 400 000 von ihnen NepalesInnen – die Hotels, Autobahnen, Stadien und Flughäfen für die erste Weltmeisterschaft in der arabischen Welt. Die Wirtschaftsberatung Deloitte schätzt, dass allein die Infrastruktur Katar rund 200 Milliarden Dollar kosten wird und dafür noch 500 000 zusätzliche ArbeiterInnen benötigt werden. Bei den letzten beiden Weltmeisterschaften in Südafrika und Brasilien kamen insgesamt neun Arbeiter ums Leben. In Katar, warnt der internationale Gewerkschaftsbund (IGB), könnte der systematische Missbrauch der ArbeiterInnen während des Aufbaus bis zu 4000 Menschen das Leben kosten.

Viele NepalesInnen sehen mangels Schul- und Berufsbildung und ohne Zukunftsperspektive keinen anderen Ausweg, als ihr Land zu verlassen. In Katar sind nach Angaben der nepalesischen Förderstelle für das Arbeiten im Ausland in den vergangenen fünf Jahren bereits 672 nepalesische GastarbeiterInnen ums Leben gekommen. Noch grösser ist die Zahl jener, die faktisch als Sklaven auf den Baustellen landen: Ihre Pässe mussten sie abgeben, und der Lohn und die Arbeitsbedingungen entsprechen überhaupt nicht dem, was ihnen ursprünglich versprochen wurde. Wegen der Ausbeutung ausländischer Arbeitskräfte wird Katar international heftig kritisiert. Doch meistens beginnt der Missbrauch der ArbeiterInnen bereits im eigenen Land. Die Geschichte von Tamang ist nur ein Beispiel für ein immer bedeutenderes Phänomen.

Gelockt durch hohle Versprechen

Der junge Mann stammte aus dem abgelegenen Distrikt Teherathum ganz im Osten Nepals. Vor vier Jahren traf er Yongan. Die beiden heirateten, unmittelbar nachdem er die Schule abgeschlossen hatte. Zunächst arbeitete er als Englischlehrer, doch die 30 000 Rupien (rund 30 Franken) Monatsgehalt reichten nicht, um seine Familie zu ernähren. Schliesslich entschied er sich wie Millionen anderer NepalesInnen, in den Golfstaaten oder in Malaysia eine bessere Zukunft zu suchen. Doch rasch verwandelten sich seine Träume in einen Albtraum: Versprochen wurde ihm ein Job als Sicherheitsbediensteter, doch bei seiner Ankunft in Katar wurde er stattdessen als Fensterputzer an einem Hochhaus eingesetzt – ein gefährlicher Job, für den er überdies nicht ausgebildet war. Sein Gehalt war bedeutend tiefer als die vereinbarten rund 320 Franken im Monat.

Wie viele seiner Landsleute wurde Tamang betrogen, doch konnte er wenig dagegen tun, denn im Rahmen des Kafala, des katarischen Sponsoringsystems, war sein Visum rechtlich an seinen Arbeitgeber gebunden. Diese Praxis macht es den ArbeiterInnen praktisch unmöglich, den Job zu wechseln, das Land ohne Erlaubnis der Firma zu verlassen oder Klage wegen Arbeits- und Lohnmissbrauch einzureichen. Darüber hinaus musste Tamang die 1100 Franken Darlehen für die Gebühr der Vermittlungsagentur sowie den Flug zurückbezahlen – eine immense Summe in einem der ärmsten Länder der Welt. Seine einzige Option war, während sechs Tagen die Woche zwölf Stunden täglich zu arbeiten, um doch noch etwas Geld nach Hause schicken zu können.

Am internationalen Flughafen Tribhuvan in Kathmandu kommen jeden Tag etwa zwei Särge an. Die Leichen kommen nicht nur aus Katar, doch neben Malaysia und Saudi-Arabien haben befragte ArbeiterInnen das Land immer wieder als eine der schlimmsten Destinationen bezeichnet. In der Ankunftshalle warten Familien stundenlang in stiller Trauer, um ihre Liebsten in Empfang nehmen und beerdigen zu können. Wenige Hundert Meter weiter, in der Abflughalle des kleinen Flughafens, stehen tagtäglich Hunderte junge Menschen Schlange: Meist tragen sie nicht mehr als einen Koffer gefüllt mit ein paar Kleidern mit sich, und in ihrem Blick spiegelt sich eine Mischung aus Hoffnung und Furcht. 1700 nepalesische ArbeiterInnen passieren täglich die Gates, um einem Land zu entfliehen, in dem die Arbeitslosigkeit bei 46 Prozent liegt. Zwar kennen sie alle die erschreckend hohe Zahl von Todesopfern unter den GastarbeiterInnen in ihren Zielländern und wissen, dass dasselbe Schicksal auch sie ereilen könnte. Doch ihre Antwort darauf ist einfach: «Wir haben keine Wahl.»

Jene NepalesInnen, die im Ausland ihr Glück suchen wollen, wenden sich in der Regel an einen Mittelsmann in ihrem Dorf, der wiederum mit einer Agentur in Kathmandu in Verbindung steht. Die meisten Mittelsmänner verlangen zwischen 700 und 2000 Franken für Visum, Kontakte, medizinische Gutachten und Flugticket. Die GastarbeiterInnen kommen oft kurz vor ihrem Abflug nach Kathmandu. Zeit, die Kontakte zu prüfen, bleibt kaum, falls sie die Formulare überhaupt lesen können – die Alphabetisierungsrate in Nepal liegt bei rund sechzig Prozent. Viele von ihnen verlassen sich voll und ganz auf die Versprechen der Agenturen. «Zu dem Zeitpunkt können die Arbeiter nicht mehr zurück», sagt Rameshwar Nepal, der Präsident von Amnesty International in Nepal. «Schliesslich haben sie bereits ein Darlehen aufgenommen, um die Reise bezahlen zu können.»

Korruption ist die Regel

Trotzdem ist der Drang gross, das Land zu verlassen: Im Jahr 2013 machten Geldsendungen aus dem Ausland 25 Prozent des Bruttoinlandsprodukts Nepals aus. Nepal steht diesbezüglich weltweit an dritter Stelle. Auf dem Papier hat Nepal zwar eine der besten Migrationsgesetzgebungen weltweit: Stellen im Ausland müssen in den Lokalzeitungen ausgeschrieben werden, mit genauen Angaben zur Dauer und zum Gehalt. Vor der Ausreise prüft das Ministerium für Auslandsarbeit jeweils die Dokumente wie den Arbeitsvertrag oder das Profil des Unternehmens. Die ArbeiterInnen müssen eine Versicherung abschliessen, die bei ihren Familien für den Todesfall hinterlegt wird. Für die Vermittlungsagenturen gibt es Limiten für die Gebühren und Strafzahlungen, wenn diese Limiten nicht respektiert werden.

Trotzdem funktioniert die Umsetzung schlecht. Angestellte des Ministeriums für Auslandsarbeit werden regelmässig wegen Korruption und heimlicher Zusammenarbeit mit den Agenturen verhaftet. Im baufälligen Haus des Ministeriums versucht Surya Koirala, der zuständige Minister, sich zu rechtfertigen: «Es gibt eine unerlaubte Zusammenarbeit zwischen den Agenturen und den Unternehmen in Katar, doch dort kommen wir nicht ran», sagt er. «Wir sind ein armes Land, gegen so mächtige Nationen können wir nichts machen.»

Sobald sie in Katar angekommen sind, werden die ArbeiterInnen in engen, dreckigen Lagern zusammengepfercht, wo sie die wenigen Waschgelegenheiten und Toiletten mit Hunderten anderen teilen müssen. Viele arbeiten zwischen zehn und vierzehn Stunden täglich, meist bei Temperaturen von bis zu 55 Grad Celsius. Erschöpft von diesem unmenschlichen Arbeitsrhythmus sterben einige von ihnen an Durchfall oder wegen Atembeschwerden. Menschenrechtsorganisationen und Gewerkschaften machen die Arbeitsbedingungen für die hohe Zahl der Todesfälle verantwortlich – doch die Regierung Katars klassifiziert die Tode lediglich als «Herzfehler». «Wenn nicht explizit die Arbeit als Todesursache identifiziert werden kann, tragen die ausländischen Unternehmen keine Verantwortung», sagt Sumitra Singh, der Verantwortliche für die Kompensierung der Angehörigen der Toten bei der Vermittlungsstelle für ausländische Arbeiter, Kathmandu.

Fifa kümmert sich nicht

Bis zu zwölf Stellen können zwischen ArbeiterIn und Firma stehen, die alle von dem Geschäft profitieren wollen – zwölf Stellen, die Gebühren oder Bestechungsgeld verlangen oder auf andere Art die Rechte der ArbeiterInnen verletzen. Und dennoch wächst die Schlange jener, die ihr Land verlassen wollen, täglich. Die Auswirkungen auf die Gesellschaft sind massiv: Die Landwirtschaft liegt brach, Nepal importiert mittlerweile mehr Lebensmittel, als es ausführt, und Tausende indische BäuerInnen bestellen inzwischen die verlassenen Felder Nepals. Die wachsende Isolation der MigrantInnen und ihrer Familien hat die HIV-Rate in die Höhe schnellen lassen, Aufklärung findet kaum mehr statt. «Die Kinder nehmen die Schule nicht mehr ernst, stattdessen träumen sie vom Leben im Ausland», sagt Ganesh Gurung, Experte für Migration am nepalesischen Institut für Entwicklungsstudien. «Arbeitsmigration ist gleichzeitig Fluch und Segen für unsere Wirtschaft, aber eine langfristige Lösung für die Entwicklung Nepals ist sie nicht.»

Katarische Behörden versprachen jüngst eine lang ersehnte Reform des Arbeitsrechts, namentlich die Abschaffung des Kafala-Systems und der sogenannten Exit-Visa, die die ArbeiterInnen bei der Firma beantragen müssen, wenn sie das Land verlassen wollen. Ebenso versprach Katar neue Sozialhilfestandards für die ArbeiterInnen, die die Stadien bauen (nicht aber für alle anderen). Bis jetzt wurde jedoch nichts davon umgesetzt, und bis jetzt hat sich nichts verändert an der Situation der ArbeiterInnen. Der Internationale Gewerkschaftsbund (Ituc) nennt die versprochenen Reformen «reine Kosmetik». Regierungsstellen in Katar und Nepal haben auf die Anfragen nicht geantwortet. Präsident Sepp Blatter beschrieb vergangenen November die Situation zwar als «inakzeptabel» und forderte eine «schnelle und konsequente Umsetzung fairer Arbeitsbedingungen». Katar als Gastgeberland hat er bisher allerdings nicht infrage gestellt.

Systematischer Missbrauch

Die geplante Fussball-WM 2022 hat die Kritik an Katars Umgang mit GastarbeiterInnen lauter werden lassen. Gewerkschaften und Menschenrechtsorganisationen drängen nun darauf, dass Katar das Kafala-System abschafft. Doch noch immer werden die GastarbeiterInnen im Golfstaat systematisch missbraucht. Ein Bericht der Anwaltsfirma DLA Piper kommt zum Schluss, dass in den Jahren 2012 und 2013 964 GastarbeiterInnen aus Nepal, Indien und Bangladesch ums Leben kamen.

In der katarischen Bevölkerung mangelt es an Arbeitskräften: Von den 230 000 Einheimischen sind nur etwa 70 000 im Arbeitsleben aktiv. Dazu kommen etwa 1,4 Millionen GastarbeiterInnen: Die meisten von ihnen stammen aus Nepal, Indien und Pakistan.