Brasilien: Gott in den Niederungen der Politik

Nr. 38 –

In Europa wird die unverhoffte Präsidentschaftskandidatin Marina Silva oft als linke Umweltschützerin gesehen. Mit ihr greift aber eine tiefgläubige Pfingstkirchlerin nach der Macht.

Sie könnte auch tot sein. Wäre sie am 13. August 2014 zusammen mit Eduardo Campos, dem Präsidentschaftskandidaten der kleinen Sozialistischen Partei Brasiliens (PSB), in der Cessna 560XL gesessen, wäre sie mit ihm beim Landeanflug auf den Flughafen von Santos zerschellt. Campos hätte es gerne gesehen, wenn Marina Silva ihn begleitet hätte; sie war seine Kandidatin für die Vizepräsidentschaft.

Dass sie nicht im Flugzeug sass, sagt sie, war «göttliche Vorsehung». So wurde die 56-Jährige selbst Kandidatin aufs höchste Staatsamt – laut Umfragen die einzige, die eine Wiederwahl der linken Amtsinhaberin Dilma Rousseff von der Arbeiterpartei PT am 5. Oktober verhindern kann. Campos wäre chancenlos gewesen.

Die Mehrheit der BrasilianerInnen ist frustriert vom politischen System, das zu Recht als korrupt und ineffektiv gilt. Silva ist zwar seit Jahren selbst Teil dieses Betriebs, hat dabei mehrfach die Partei gewechselt und schafft es doch, sich als Antipolitikerin darzustellen. Sie wolle eine «neue Politik» machen, lautet ihr Wahlkampfmotto. Was immer das heissen mag, es scheint einen Nerv zu treffen.

Theologie der Ergebnisse

In Europa wird Maria Osmarina Silva de Souza oft mit dem Label «Umweltschützerin» versehen. Sie wurde im Amazonasbundesstaat Acre als eins von elf Kindern in eine arme Familie von Kautschukzapfern hineingeboren. Analphabetin bis zum 16. Lebensjahr, studierte sie später Geschichte, wurde Lehrerin, gründete eine Gewerkschaft und kämpfte mit dem 1988 ermordeten Chico Mendes für den Schutz des Amazonaswaldes. 2003 machte Präsident Lula da Silva sie zur Umweltministerin. Fünf Jahre später trat sie zurück, weil der Präsident auf den Massenexport von Gensoja und Eisenerz setzte und auf Megaprojekte ohne Rücksicht auf Umweltfragen.

Was bei der Berichterstattung über Silva oft zu wenig beleuchtet wird: Sie gehört seit 1997 der Assembleia de Deus an, der Versammlung Gottes, einer der ältesten Pfingstkirchen Brasiliens, die mit zwölf Millionen Gläubigen die grösste ist. Überall in Lateinamerika verzeichnen solche Kirchen starken Zulauf, insbesondere bei ärmeren und ungebildeten Schichten. Ihr Erfolg basiert auf einer Theologie des Ergebnisses: Wunder finden nicht nur in der Bibel statt, sondern jeden Tag. Viele Pfingstkirchen versprechen den Gläubigen, ihr Gott heile Krankheiten und verhelfe zu einem Job und Geld. Reich aber werden oft nur die Bischöfe.

Nach der jüngsten Volkszählung im Jahr 2010 sind 42,2 Millionen der 202 Millionen BrasilianerInnen evangelikal – ein erheblicher Teil der Wählerschaft. Und sie treten auch selbst zu Wahlen an, nicht zuletzt für das Parlament: 68 der 513 Mitglieder der Abgeordnetenkammer sowie 3 von 81 SenatorInnen gehören heute der Frente Parlamentar Evangélica an, der Evangelikalen Parlamentsfront. Sie stellt den zweitgrössten parteiübergreifenden Interessenblock in Brasilia – nur noch übertroffen vom Block der Agrarindustrie.

Rolle des Mehrheitsbeschaffers

In der instabilen Parteienlandschaft Brasiliens – im Parlament sind 23 Parteien vertreten, die aktuelle Regierungskoalition besteht aus zehn – kommt solchen Gruppen die Rolle des Mehrheitsbeschaffers zu. Zudem können sie ausserparlamentarischen Druck erzeugen, im Falle der Evangelikalen bei Gottesdiensten und mit eigenen Radio- und Fernsehsendern. Nach einer Untersuchung des Instituts für religiöse Studien von 2013 bestimmen die Evangelikalen vor allem in den Peripherien der Städte das Meinungsbild. Gewerkschaften oder soziale Bewegungen seien dort kaum präsent: «Die Pfingstkirchen prägen die politische Kultur.»

Vor allem in gesellschaftspolitischen Fragen vertreten die Evangelikalen extrem konservative Positionen: Sie lehnen die Homosexuellenehe ebenso ab wie die Legalisierung der Abtreibung, und sie wollen das Erwachsenenstrafrecht auch auf Jugendliche anwenden. Ausserdem behindern sie progressive Gesetzesvorhaben, etwa solche zur Aidsprävention oder zur Kriminalisierung von Homophobie. Seit 2013 stellen sie mit dem Pastor Marco Feliciano den Vorsitzenden des Menschenrechtsausschusses im Parlament. Der ist berüchtigt für homophobe und rassistische Äusserungen.

Auch ausserhalb der politischen Arena zeigen die Evangelikalen gerne ihre Macht. Erst vor wenigen Wochen weihte die Universalkirche vom Reich Gottes in São Paulo den gigantomanischen Salomon-Tempel mit mehr als 10 000 Sitzplätzen ein. Zur Feier erschien Staatsoberhaupt Dilma Rousseff. Würde nun Marina Silva brasilianische Präsidentin, hätte der Marsch der Evangelikalen durch die Institutionen einen Höhepunkt erreicht.

Unbestimmter Wandel

Politisch bleibt Silva schwammig. In ihrem Wahlprogramm bietet sie allen etwas. Sie verspricht politische Reformen und umwirbt die jungen BrasilianerInnen, die im vergangenen Jahr für bessere Bildung, Krankenhäuser und Transport demonstrierten. Auf der rechten Seite wildert sie mit einem neoliberalen Wirtschaftsprogramm: Sie verspricht strenge Haushaltsdisziplin und eine Senkung der Inflationsrate auf unter drei Prozent. Wenn sie die Erfolge der PT in der Armutsbekämpfung lobt, schmeichelt sie deren WählerInnen im armen Nordosten. Gleichzeitig bietet sie rechtskonservativen Kreisen im reichen Südosten einen drastischen Abbau des Staats an.

Auch in gesellschaftspolitischen Fragen eiert die Kandidatin herum. Sie versucht, evangelikale WählerInnen zufriedenzustellen, ohne die Aufgeschlossenen zu verprellen. Im Zweifel optiert sie stets für Erstere. In ihrem Wahlprogramm befürwortete sie zunächst die Schwulenehe, zog das aber nach heftiger Kritik von führenden Evangelikalen wieder zurück. Ebenso widerrief sie ihre Unterstützung für ein Gesetz zur Bestrafung von Homophobie. Gestrichen wurde auch das uneingeschränkte Adoptionsrecht für homosexuelle Paare sowie die schulische Sexualaufklärung. Der linke und schwule Abgeordnete Jean Wyllys nannte Silvas Schwenk einen «Wahlbetrug schon vor der Wahl».

So gibt die Kandidatin eine Projektionsfläche für alle ab, die einen Wandel wollen, ohne genau zu wissen, wie dieser aussehen soll. Dabei überschätzt Silva die Stärke des Präsidentenamts, dessen Spielraum vom Parlament mit seinen unzähligen Partikularinteressen zerrieben wird. Auch Marina Silva wird, so sie die Wahl gewinnt, bei den Ränkespielen in Brasilia mittun müssen. Mit den rückwärtsgewandten Evangelikalen hätte sie im Parlament immerhin eine starke Lobby.

Präsidentschaftswahl: Zwei Frauen gleichauf

So viel ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit klar: Brasilien wird auch in den kommenden vier Jahren eine Präsidentin haben. Wie sie heissen wird, ist noch offen. Amtsinhaberin Dilma Rousseff von der Arbeiterpartei (PT) und Marina Silva von der Sozialistischen Partei (PSB) liegen in den Umfragen für die Wahl am 5. Oktober weit vorn und so eng beieinander, dass sie wohl drei Wochen später in einer Stichwahl antreten müssen.

Silva und Rousseff sassen schon einmal in derselben Regierung, von 2003 bis 2008 unter Präsident Lula da Silva. Rousseff war erst Energieministerin, dann Kabinettschefin, Silva betreute das Umweltressort. Silva gehörte damals auch zur PT, trat aber 2008 als Ministerin im Streit über riesige Staudammprojekte und andere Umweltsünden zurück und verliess ein Jahr später die PT. Bei der Wahl 2010 war sie Präsidentschaftskandidatin der Grünen Partei und landete auf dem dritten Platz. Für die jetzige Wahl liess sie sich von der eher wirtschaftsliberalen PSB anwerben.

Vergangene Woche schien ein Korruptionsskandal um den staatlichen Ölkonzern Petrobras der PSB-Kandidatin in die Hände zu spielen: Hochrangige PolitikerInnen der PT und mit ihr verbündeter Parteien sollen jahrelang Schmiergeld genommen haben. Aber auch PSB-PolitikerInnen sollen zu den Bestechlichen gehören. Der Höhenflug Silvas in den Umfragen dauerte nur zwei Tage. Seit Rousseff ihrer Gegnerin öffentlich vorwarf, sie sei eine Marionette der Banken und verheimliche Teile ihres wirtschaftsliberalen Programms, liegen die beiden Frauen wieder gleichauf.

Toni Keppeler