Brasilien: Auf halbem Weg stehen geblieben
Es blieb beim Versprechen: Trotz Mindestlohn und Ausgleichsprogrammen der Regierung ist die Kluft zwischen Arm und Reich in Brasilien immer noch immens. In zwölf Jahren an der Macht hat die Arbeiterpartei zudem wenig getan, um die Zerstörung des Regenwalds zu stoppen. Eine Bilanz.
Die Präsidentschafts- und Parlamentswahl in Brasilien an diesem Wochenende verspricht ein Duell zwischen der amtierenden Präsidentin Dilma Rousseff von der Arbeiterpartei (Partido dos Trabalhadores, PT) und der Herausforderin Marina Silva von der Sozialistischen Partei zu werden. Während Rousseff im ersten Wahlgang vermutlich die meisten Stimmen erhalten wird, werden die rechten Mehrheiten im Parlament und in den Bundesstaaten wohl weitgehend bestehen bleiben. Am 26. Oktober 2014 kommt es zur Stichwahl.
Marina Silva, die evangelikale Ökologin aus Amazonien, die auf eine ähnlich beeindruckende Biografie verweisen kann wie Dilma Rousseffs Vorgänger Luiz Inácio Lula da Silva, bietet sich jenen als Alternative an, die – überwiegend von rechts, aber teilweise auch von links – einen Politikwechsel wünschen (siehe WOZ Nr. 38/14 ).
Doch warum läuft der PT, immerhin die wichtigste Linkspartei Lateinamerikas, überhaupt Gefahr, nach zwölf Jahren an der Regierung abgewählt zu werden? Schliesslich geht es doch Millionen BrasilianerInnen deutlich besser als zu Beginn des Jahrtausends. Erst vorletzte Woche hat die Welternährungs- und Landwirtschaftsorganisation FAO der südamerikanischen Regionalmacht bescheinigt, den «strukturellen Hunger überwunden» zu haben. Nur noch knapp zwei Prozent der Bevölkerung seien von «Ernährungsunsicherheit» betroffen – weniger als in Europa.
Einerseits halfen Sozialprogramme der Regierung wie der hochgelobte Haushaltszuschuss Bolsa Família, das Elend zu lindern: Heute bekommen vierzehn Millionen Familien einen monatlichen Zuschuss von durchschnittlich 70 Franken. Andererseits hatten vor allem die regelmässigen Erhöhungen des Mindestlohns auf derzeit 290 Franken im Monat Auswirkungen auf die Sozialstruktur des Landes. Über vierzig Millionen BrasilianerInnen sind unter den PT-geführten Regierungen zu mehr Wohlstand gekommen. Mit ihrer neu erworbenen Kaufkraft haben diese Menschen massgeblich dazu beigetragen, dass der Binnenmarkt gestärkt wurde und Brasilien die Weltfinanzkrise von 2008 glimpflich überstehen konnte.
Offiziell ist meist von der «neuen Mittelschicht» die Rede. Doch die Möglichkeit zu konsumieren führt nicht automatisch zu mehr Chancengleichheit. Das zeigten die massiven Proteste Anfang Juni 2013: Millionen junge Leute zogen auf die Strasse, um für eine bessere Bildungs- und Gesundheitsversorgung, für mehr Sicherheit und für einen erschwinglichen, funktionierenden öffentlichen Nahverkehr zu demonstrieren. In jenem Sommer machte sich eine tief sitzende Unzufriedenheit mit dem politischen System Luft, besonders mit der als korrupt geltenden Politikerkaste. Die Milliardenausgaben für die Luxusstadien der Fussball-WM 2014 wirkten dabei nur als Katalysator.
Klassenkluft bleibt
Als Reaktion zauberte die PT-Regierung ihr altes Anliegen wieder aus dem Hut, das vorher eher in den Hintergrund getreten war: die Demokratisierung des Wahlsystems, das nicht wie heute die Wirtschaftskräfte und Oligarchen favorisiert. Im Parlament scheiterte sie damit allerdings am Widerstand der konservativen Parteien.
Als grösster Fortschritt bleibt das Programm für mehr Ärzte, das Rousseff kurz nach der Protestwelle lancierte: Rund 15 000 ausländische MedizinerInnen (mehrheitlich aus Kuba) arbeiten nun in abgelegenen Kommunen, wo es an brasilianischen StudienabgängerInnen fehlt. Das Zweiklassensystem im Gesundheits- und Bildungswesen bleibt aber unangetastet (vgl. «Überfüllte Klassen und Warten aufs Spital» im Anschluss an diesen Text).
In den letzten Umfragen vor der Wahl schneidet die Präsidentin besonders bei den 16- bis 34-Jährigen schlecht ab. Sie haben den PT fast nur noch als Teil des Establishments erlebt, nicht als jene linke Kraft, die nach langen Kämpfen schliesslich 2003 mit dem Versprechen für einen sozialen und ethischen Wandel angetreten war.
Noch in den späten achtziger Jahren sprach der charismatische Gewerkschaftsführer Lula einmal von «300 Gaunern» im Parlament. Unter dem Präsidenten Lula jedoch hatte sich allerdings auch die Arbeiterpartei den vorherrschenden Gepflogenheiten unterworfen. Für den Korruptionsskandal «Monatsbatzen» im Jahr 2005, bei dem das Stimmverhalten verbündeter Parlamentarier mit monatlichen Zusatzzahlungen erkauft wurde, sitzen führende PT-Politiker heute im Gefängnis.
Lula, mit 68 Jahren immer noch der strategische Kopf des PT, scheut sich heute weniger denn je, machtpolitische Allianzen mit notorisch korrupten Regionalfürsten einzufädeln. Denn landesweit bringt es die pragmatisch gewendete Arbeiterpartei nur gerade auf ein Fünftel der Stimmen.
Neoliberalismus statt Landreform
Unter Lulas technokratischer Nachfolgerin Rousseff ist schliesslich auch die Landreform, durch die Boden an die landlose Bevölkerung verteilt werden soll, vollends zum Erliegen gekommen. Das Agrobusiness und die Bergbaukonzerne rücken immer weiter auf Gebiete vor, die verfassungsgemäss den indigenen Völkern zustehen.
Die neokoloniale internationale Arbeitsteilung, nach der Lateinamerika vorwiegend als Rohstofflieferant fungiert, hat sich in den letzten Jahren zugespitzt: Von Januar bis August machten unverarbeitete Ressourcen wie Soja oder Eisenerz rund die Hälfte von Brasiliens Exporterlösen aus – der höchste Wert seit 1978. Nun rächt sich, dass sich Lula wie sämtliche seiner linken KollegInnen in der Region fast ausschliesslich auf den Rohstoffboom verlassen hat: Wenn die Rohstoffpreise wie jetzt sinken, droht eine Rezession.
Politik als grosser Brei
Anders als in Argentinien oder den Andenländern wird in Brasilien noch nicht über die Frage diskutiert, wie nachhaltig dieser Kurs ist. Die Regierung zweigt zwar mehr Geld aus der Rohstoffförderung ab, um damit ihre Sozialprogramme zu finanzieren. Doch die Kluft zwischen Arm und Reich bleibt trotzdem weiter bestehen.
Im Wahlkampf beschwört der PT wie immer seine linken Wurzeln. Gegen die rechtsliberale Sozialdemokratische Partei, die sich unter Fernando Henrique Cardoso in den neunziger Jahren dem Neoliberalismus verschrieben hatte, hat diese Strategie dreimal funktioniert. Nun aber wird es schwierig. Im Gegensatz zu Marina Silva hat der PT bislang noch nicht einmal ein Regierungsprogramm vorgelegt. Stattdessen führt er mit flachem TV-Marketing und über die sozialen Netzwerke eine Schlammschlacht gegen Silva, mitfinanziert durch Millionenspenden von Banken und Grossunternehmen.
Die wiederum können zufrieden sein. Nationalisierungen wie in Venezuela oder Bolivien hat der PT nie angestrebt; stattdessen erhalten die einheimischen Mineral-, Agro- oder Baukonzerne Milliardenkredite, mit denen sie ihre Position auf dem Weltmarkt ausbauen können.
Sollten sich die BrasilianerInnen nicht glücklich schätzen, dass sie jetzt immerhin die Wahl zwischen zwei gemässigt progressiven Frauen haben? Mit Marina Silva könnte bald ja sogar eine Schwarze Präsidentin des Landes werden.
Skepsis überwiegt, Silva hat sich mit neoliberalen Ökonomen umgeben. «Wir haben eine lange Phase der Enttäuschung hinter uns», sagt der Bundesabgeordnete Chico Alencar aus Rio de Janeiro, der 2005 vom PT zur kleinen Partei für Sozialismus und Freiheit gewechselt hatte. Ein Neuanfang werde schwierig: «Politik ist zu einem grossen Brei verkommen.»
Gesundheits- und Bildungssystem : Überfüllte Klassen und Warten aufs Spital
Die Zustände in Brasiliens Schulen und Krankenhäusern sind nach wie vor miserabel. Wer krank ist, muss oft mehrere Monate auf eine Operation warten, es sei denn, er oder sie ist privat versichert.
In den öffentlichen Schulen prägen riesige Klassen das Bild, die LehrerInnen sind schlecht ausgebildet und unterbezahlt, oft gibt es Gewalt. Im internationalen Vergleich landen die brasilianischen SchülerInnen regelmässig weit hinten. Die Anzahl der Studierenden an Fachhochschulen hat sich hingegen deutlich erhöht, und AfrobrasilianerInnen bekommen durch Quoten leichter Zugang zu öffentlichen Universitäten als früher.
Die Kluft zwischen Arm und Reich bleibt immens, auch zwischen der oberen Mittelschicht und der sogenannten neuen Mittelschicht. Von gleichen Lebenschancen kann keine Rede sein. Die ärmeren BrasilianerInnen sind viel stärker von der hohen Kriminalität und der Polizeigewalt betroffen als das reichste Fünftel der Gesellschaft – fünfzehn der fünfzig gefährlichsten Städte der Welt liegen in Brasilien.
Und auch sonst ist das Leben in den Ballungsgebieten stressig. Seit der Jahrtausendwende hat sich die Anzahl der zugelassenen Autos verdoppelt. Für Millionen BrasilianerInnen bedeutet Alltag, jeden Tag stundenlang in meist überfüllten öffentlichen Verkehrsmitteln im Stau zu stecken. 2009 begann die Regierung zwar, massiv in den Wohnungsbau und die städtische Infrastruktur zu investieren. Doch die grossen Gewinner sind die SpekulantInnen: Zwischen 2009 und 2012 stiegen die Wohnungspreise stark an, in São Paulo um 150, in Rio de Janeiro gar um 185 Prozent.