Einschüchterung von JournalistInnen: Ein Brief von der «ersten terroristischen Organisation»
Italien ist lebensgefährlich für hartnäckig recherchierende JournalistInnen. In die Luft gesprengte Autos, tätliche Übergriffe, Patronen in Drohbriefen, offene Morddrohungen: Damit sollen sie zum Schweigen gebracht werden.
Weit über Italien hinaus bekannt ist Roberto Saviano, der Autor von «Gomorrha». Sein Schicksal ist kein Einzelfall. Wie er müssen auch Giovanni Tizian und ein halbes Dutzend anderer JournalistInnen ihr Leben unter ständigem Polizeischutz fristen. So auch Lirio Abbate, der 2007 gemeinsam mit Peter Gomez im Buch «I complici» Verbindungen zwischen Mafia und Politik rekonstruierte, die die über dreissig Jahre währende Flucht des mächtigsten sizilianischen Mafiapaten Bernardo Provenzano erst möglich machten.
Wegen seiner Recherchen wurde Lirio Abbate mehrfach bedroht. Am 4. September 2007 stellte die Polizei unter seinem Wagen in Palermo eine Bombe sicher. Abbate liess sich nicht einschüchtern. Unter anderem beschäftigte er sich mit den Verhandlungen zwischen Staat und Mafia, mit der ’Ndrangheta und den Verflechtungen zwischen Mafia und Wirtschaft.
Dank eines Interviews mit einem anonymen norditalienischen Unternehmer gelang es Abbate aufzuzeigen, wie die Mafia die Steueramnestie für ausländische Schwarzgeldkonten für Geldwäsche in gigantischem Umfang nutzen konnte. Zu diesem Zweck liess die Mafia ihr gefügige Unternehmer als Strohmänner für Fonds aus dem Ausland auftreten – Fondsgelder, die nach Italien transferiert und schliesslich dank der Steueramnestie weissgewaschen waren. 2010 berichtete die Tageszeitung «Il Fatto» über ein geplantes Attentat gegen Abbate und den Antimafiajäger Pietro Grasso.
Die Pressefreiheit ist bedroht
All das lässt sich in einem Jahresbericht von Ossigeno per l’informazione (Sauerstoff für Medien), der Beobachtungsstelle des italienischen Journalistenverbands und der Journalistenkammer FNSI-ODG, über Reporter unter Polizeischutz und gewaltsam unterdrückte Nachrichten nachlesen. Ein verstörendes Dokument. Direktor der Stelle ist Alberto Spampinato, Bruder eines ermordeten Journalisten. Seit den sechziger Jahren sind in Italien zwölf Journalisten ermordet worden – Giovanni Spampinato, Cosimo Cristina, Mauro De Mauro, Mario Francese, Pippo Fava, Peppino Impastato, Beppe Alfano, Mauro Rostagno, Carlo Casalegno, Walter Tobagi und Giancarlo Siani.
Zwar wurden seit 1993 in Italien keine JournalistInnen mehr umgebracht. Der Jahresbericht 2009/10 von Ossigeno per l’informazione widerlegt laut dem Direktor der Beratungsstelle jedoch «die weitverbreitete Überzeugung, nach der Italien für Journalisten ein sicheres Territorium sei». Der Bericht besagt, «dass zwischen 2009 und 2010 Hunderte von Journalisten gravierenden Bedrohungen, Einschüchterungsversuchen und Beschädigungen ausgesetzt waren, die ihr Recht auf Recherche und Berichterstattung einschränkten.»
Die Pressefreiheit in Italien ist massiv bedroht. Phänomene dieser Art könne es nach allgemeiner Überzeugung nur in Staaten mit schwacher und instabiler Demokratie geben – oder allenfalls in Gegenden mit tief verwurzelter Mafiakriminalität. Zwar stehen Sizilien, Kalabrien und Kampanien ganz oben auf der Gefahrenliste für JournalistInnen. Aber es betrifft längst alle italienischen Provinzen, zum Beispiel Venetien, die Lombardei oder das Friaul. Alberto Spampinato: «Politiker ignorieren das Problem, Interessenverbände von Journalisten unterschätzen es, und die Zivilgesellschaft weiss nichts darüber.»
Todesdrohung aus den Abruzzen
Ein Beispiel: Die RAI-Fernsehjournalistin Daniela Senepa erhält häufig Glückwünsche von ZuschauerInnen. Eines Tages im Jahr 2010 lag eine Ansichtskarte aus den Abruzzen auf ihrem Pult. Es war kein Glückwunsch, es war eine Todesdrohung – weil die Reporterin über einen Gerichtsprozess berichtet hatte, der Korruption im Gesundheitswesen verhandelte. «Unglaublich, das Gericht macht einem mutmasslichen Dieb den Prozess, ich schreibe, was die Staatsanwaltschaft tut, und soll dafür sterben!»
Ein anderes dokumentiertes Beispiel: «Hast du die Patronen erhalten?», fragt ein Anrufer einer Livefernsehsendung morgens um 8.40 Uhr. Fabio Fioravanzi ist mit seinem täglichen Programm auf Antenna Tre Nordest auf Sendung. Es ist nicht die erste Drohung. Im Jahr 2007 erhalten der Journalist, mehrere Staatsanwälte, Politiker und Industrielle aus Venetien einen Drohbrief, unterzeichnet von einer «Prima organizzazione terroristica triestina». Das Pulver im Umschlag hielt man zunächst für Anthrax, es erwies sich jedoch als harmlos. Als Urheber verurteilte das Gericht von Triest einen vorbestraften Mann zu 25 Monaten Haft.
Noch ein weiteres Beispiel kommt aus dem Friaul, dem slowenischen Grenzgebiet. Dort gibt es eine ganz Reihe von Spielcasinos, die offenbar von Mafiaclans aus dem sizilianischen Catania unterwandert sind. Fabio Folisi ist verheiratet und hat einen Sohn. Er koordiniert die Redaktion von «E Polis/Friuli» und ist Chefredaktor der Onlinezeitung «Friulinews». Am 11. Februar 2010 entdeckt Folisi beim Verlassen der Redaktion – es ist 17 Uhr – einen Umschlag. Jemand hat ihn an sein Auto geheftet. Neben einem Brief findet er im Umschlag eine Patrone. Er solle sich gefälligst um seine eigenen Angelegenheiten kümmern. «Der Wagen gehörte nicht mir», sagt Folisi, «ich hatte ihn mir wenige Tage zuvor ausgeliehen, weil meiner in Reparatur war. Niemand ausser den Kollegen und meiner Familie wusste, welchen Wagen ich in diesen Tagen benutzte.» Offensichtlich wurde der Journalist observiert.
Reporterauto in Flammen
Ein Beispiel aus Genua: Marco Menduni, Reporter für «Il Secolo XIX», landete einen Scoop, als er einen Skandal um gefälschte Unterschriften bei den Listen für die Regionalwahlen aufdeckte. Die Staatsanwaltschaft ermittelte umgehend in dieser Sache. Menduni recherchiert seit Jahren über die organisierte Kriminalität, über Verschwendung öffentlicher Gelder und Vetternwirtschaft im Gesundheitswesen und in der Politik. Am 1. Januar 2010 geht sein Smart Roadster vor seinem Haus in Flammen auf. «Die Täter mussten nicht lange suchen, einen Smart Roadster sieht man nur selten. Jeder weiss, dass er mir gehört», sagte der Reporter gegenüber Ossigeno per l’informazione.
Menduni erhielt seit Jahren immer wieder solche «Warnungen». Im Jahr 2005 deponierten Unbekannte Müll im Eingangsbereich seiner Redaktion und kritzelten «Menduni, der Schlächter» an die Wand. Marco Menduni: «Das organisierte Verbrechen gibt es auch bei uns. Auch hier gibt es mafiöse Familien, Beschlagnahmungen und Ähnliches. Sicher bin ich in dieser Hinsicht besonders exponiert. Es kommt darauf an, wie du deinen Beruf verstehst, ob du gute Arbeit leisten willst.»